Vorbemerkung zur Broschüre „Sozialistische Utopien in Wissenschaft und Politik““

erschienen in:

Alexander Amberger, Carl-Erich Vollgraf, Thomas Möbius, Ulrike Breitsprecher
Sozialistische Utopien in Wissenschaft und Politik
Nachforschungen bei Marx & Engels, nach der Oktoberrevolution in Russland und in der DDR
Helle Panke e.V. (Hg.): Philosophische Gespräche, Heft 55, S. 5-7


Vorbemerkung
Im Jahre 1516 legte der englische humanistische Gelehrte Thomas Morus seinen fiktiven Reisebericht „von der wunderbaren Insel Utopia“ vor. Er begründete damit eine Gattung, die für die sozialistische Theorie und Praxis grundlegend werden sollte: die Utopie. Im Zuge des 500. Jahrestages der „Utopia“ ist einiges an neuer Forschungsliteratur erschienen[1] zu jener politisch-literarischen Gattung, die auch nach dem vielfach postulierten „Ende der Geschichte“ über Alternativen zum Bestehenden nachdenkt. Mit dem vorliegenden Heft möchten auch wir einen Beitrag dazu leisten. Die „Helle Panke“ nahm den 500. Jahrestag zum Anlass für einen Veranstaltungszyklus unter dem Titel „Utopia 500 – Utopie(n) gestern, heute, morgen“. Drei der Vorträge wurden für das vorliegende Heft verschriftlicht, ein weiterer erschien als Heft 46 der Reihe „Philosophische Gespräche“[2]. Alle setzen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Verhältnis zwischen Marxismus-Leninismus und Utopie auseinander.
Für Gegner des Marxismus ist dieser – bestenfalls – per se „utopisch“. Der Begriff wird von ihnen dabei pejorativ verwendet: Sozialistische oder kommunistische Zukunftsentwürfe gelten als „Spinnerei“, gar als eine im „Wolkenkuckucksheim“ latent angelegte Diktatur. Dem wird als demokratisches Bollwerk der westliche Liberalismus entgegengestellt. Joachim Fest, Karl Popper und Ralf Dahrendorf zählen gegenwärtig zu den bekanntesten intellektuellen Vertretern solcher Utopiekritik.
Kritiker der Gattung gibt es allerdings schon viel länger. Im 19. Jahrhundert sahen sich beispielsweise Marx und Engels mit dem Vorwurf des „Utopismus“ konfrontiert. Zwar konnten ihre Gegner noch nicht auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“ verweisen. Der Vorwurf der utopischen Spinnerei gegenüber sozialistischen Theorien ist aber so alt wie diese Theorien selbst. Marx und Engels versuchten diesen Vorwurf abzuwehren, indem sie ihr Modell als „wissenschaftlichen Sozialismus“ von den bisherigen Sozialutopisten abgrenzten.[3]
An dieser Abwehr setzt der erste Beitrag ein. Carl-Erich Vollgraf analysiert das Verhältnis von Marx und Engels zur Utopie. Er zeigt, dass sich verteilt durch die Marx-Engels-Gesamtausgabe Aussagen zu klassischen utopischen Elementen hindurchziehen, wie den Eigentumsverhältnissen, der Distribution von Gütern, der Planung der Wirtschaft, dem Arbeitsbegriff oder dem Ideal des Neuen Menschen. Er weist nach, wie diese Vorstellungen immer wieder negiert, verändert oder neu gedacht worden sind, je nach theoretischer oder tagespolitischer Lage. Marx und Engels waren also doch nicht so frei von Utopie, wie sie es für sich selbst mit ihrem „wissenschaftlichen Sozialismus“ beanspruchten.
Praktisch werden sollte dieser „wissenschaftliche Sozialismus“ vor 100 Jahren in Russland. Hatte sich Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution“ (verfasst im Sommer 1917) noch gegen Utopismus ausgesprochen, so eröffnete die Oktoberrevolution kurz darauf doch ein Jahrzehnt übersprudelnder Utopieproduktion in Theorie und Praxis. Thomas Möbius hat in seiner opulenten Dissertation[4] u.a. die Geschichte der Utopie in Russland während dieser Phase nachgezeichnet. Sein Beitrag im vorliegenden Heft zeigt den Überschuss an utopischen Ideen und deren Drängen nach konkreter Verwirklichung auf. Beim Schritt in die Praxis offenbarten sich indes Schwierigkeiten, Widersprüche und Konflikte mit Machtinteressen, die den holistischen und widerspruchsfreien Entwürfen älterer Utopien zumeist fremd sind. Dieses Scheitern im Realen wird von Möbius geschildert.
Der ideologisierte „wissenschaftliche Sozialismus“, der mit Stalins Nomenklaturaherrschaft endgültig an die Stelle der Utopie trat, nutzte die verbliebene Hülle der völlig entkernten Utopie dazu, Herrschaft zu legitimieren und Fernziele zum Zwecke des politischen Machterhalts zu proklamieren. Den Utopieverschleiß in den folgenden Jahrzehnten schildert Ulrike Breitsprecher anhand der Jugendweihebücher aus der DDR. In ihnen wurde gerade in den frühen Jahren viel von der kommunistischen Zukunft geschwärmt. Technikglaube und Fortschrittseuphorie bestimmten das Bild. Utopische Visionen verbanden sich mit Science Fiction. Ein wesentliches Element politischer Utopien fehlte jedoch: die Kritik an der Gegenwart des Realsozialismus. Politische Utopien in der Tradition von Morus’ „Utopia“ setzen sich zusammen aus Analyse und Kritik der Gesellschaft und des politischen Systems, in dem der Autor bzw. die Autoren leb(t)en, sowie einer darauf aufbauenden Zukunftsprojektion. Die Jugendweihebücher enthielten diese Kritik nicht. Sie sollten, im Gegenteil, das bestehende System legitimieren und die adoleszierende Zielgruppe davon politisch überzeugen. Bestenfalls wurde in diesen Büchern die kapitalistische Gegenwart des Westens kritisiert und ihr eine kommunistische Alternative entgegengestellt. Erschwerend für das Funktionieren der Utopie im Realsozialismus kam hinzu, dass Utopien traditionell sozialistische, kommunistische oder anarchistische Gesellschaftsmodelle als Alternative aufzeigen. Somit blieb in der DDR, die sich ja als sozialistisch verstand, nur der Zukunftsentwurf eines zum Kommunismus weiterentwickelten Sozialismus.[5] Breitsprecher zeichnet das Verblassen der Zukunftsbilder nach, einhergehend mit der sich verschlechternden ökonomischen Situation des Landes.
Ein immer wiederkehrendes Problem des utopischen Diskurses ist die Vielzahl von Utopiebegriffen, die sich in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. Literatur- oder Politikwissenschaft finden und die zudem auch außerhalb der Wissenschaften in populäre bzw. umgangssprachliche Definitionen zerfasern. Was zeichnet Utopien also aus? Auch in diesem Heft folgen die drei AutorInnen keinem einheitlichen Utopiebegriff. Während Carl-Erich Vollgraf „utopisch im Sinne von unrealistisch“ auffasst und die Schriften von Marx und Engels nach solchen Stellen untersucht, analysiert Thomas Möbius den Grenzbereich zwischen utopischen Vorstellungen und den praktischen Umsetzungsversuchen dieser Ideale in der Zeit unmittelbar nach der Russischen Revolution. Hier trat die Utopie in die Realität ein und enthob sich somit selbst ihres utopischen Charakters. Eine Utopie ist etwas Gedachtes: Beim Eintritt in die Realität wird sie aufgehoben. Folglich bedarf es neuer Utopien, die sich auf diese reale Umsetzung beziehen, sie kritisieren und weiterdenken – positiv oder negativ.

[1]   Vgl. Heyer, Andreas: Circa ein Kilo Morus. Rückblick auf das Utopia-Jahr 2016, in: Berliner Debatte Initial, Heft 2/2017, S. 142–148.

[2]   Alexander Neupert-Doppler: Der utopische Imperativ. Herbert Marcuse, 1968 und die Neue Linke. „Philosophische Gespräche“, Heft 46, Berlin 2017.

[3]   Vgl. Marx, Engels und utopische Sozialisten. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue Folge 2016/2017, Hamburg 2017.

[4]   Thomas Möbius: Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin, Berlin und Münster 2015.

[5]   „Die Utopie kommt nur zustande, wenn die wirklichen Verhältnisse von der Phantasie überflügelt werden. Da wir jedoch über den Sozialismus nicht hinaus denken, hat die Utopie ihre eigentliche Dimension verloren.“ Krauss, Werner: Geist und Widergeist der Utopien, in: Sinn und Form 14. Jg. (1962) Heft 5/6. S. 769–799, S. 798.