Überlegungen zu Alternativen und Geschichtsbildern

Zum Buch von Siegfried Prokop über die Ära-Ulbricht der DDR von 1950–1970.

Zuerst erschienen in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Nr. 4/2023 (Dezember), S. 136-139

Siegfried Prokop: Probleme der Geschichte der DDR. Die Ulbricht-Ära (1950–1970) trafo Wissenschaftsverlag, Berlin 2022, 410 S.

Nach dem Lesen des Buches von Siegfried Prokop und der anschließenden Debatte in dieser Zeitschrift [BzG] lassen sich einige Schwerpunkte und Einschätzungen herauslesen, denen weitestgehend zuzustimmen ist:
1. Dem Buch wird aufgrund seines lockeren und verständlichen Stils sowie seines Inhaltes eine große Leserschaft gewünscht.
2. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass die Auswahl der Quellen originell und in Fällen von Archivmaterial und exklusiven Interviews gar besonders interessant sei. Zugleich wird kritisiert, dass kaum auf aktuelle Forschungsergebnisse eingegangen wird, mit denen Siegfried Prokop einige seiner teils zugespitzten Thesen hätte konfrontieren können.
3. Es wird von Prokop und einigen Diskutanten betont, dass im Buch kein Anspruch auf eine geschlossene DDR-Geschichte erhoben wird, sondern eine selektive thematische Schwerpunktsetzung mit dem Fokus auf Ereignissen aus den ersten beiden Jahrzehnten stattfindet. Die einzelnen Debattenbeiträge folgen diesem Muster und ergänzen jeweils Schwerpunkte, die den einzelnen Kommentatoren ein Anliegen sind.
Dabei kommt es erwartungsgemäß in einigen Punkten zu unterschiedlichen Bewertungen. Eine wichtige Diskrepanz besteht hinsichtlich der Frage, ob Ulbricht auf die Vorschläge von Fritz Behrens und anderen Reformkommunisten überhaupt hätte eingehen können. Georg Fülberth meint, dass Ulbrichts (Wirtschafts-)Politik nicht kompatibel mit Behrens’ rätekommunistischen Überlegungen gewesen wäre. Heinz Niemann hält Behrens’ „orthodoxe Messlatte an die unzureichende Überwindung von ‚Entfremdung‘, die Durchsetzung von realer Vergesellschaftung (Gemeineigentum) statt praktizierter Verstaatlichung“ für „praxisfremd und im RWG schon gar nicht durchsetzbar“. Behrens sei „von verfrühten, noch lange nicht erreichten Bedingungen“ ausgegangen.
Diese Frage lässt sich verallgemeinern und auf die Umsetzungsmöglichkeiten von Reformvorschlägen weiterer linker Kritiker in der DDR anwenden. So kann man sie z. B. auch in Bezug auf die Ideen von Wolfgang Harich, Robert Havemann oder Rudolf Bahro stellen. Hier kommt man immer wieder an den Punkt, wo reale Politik mit utopischen Alternativen konfrontiert wird. Natürlich ist es einfacher, Entscheidungen zu kritisieren, als diese selbst treffen zu müssen. Und es stellt sich die Frage, ob ein Sozialismus, der mit den Ideen eines jungen Marx so viel zu tun hatte, wie die Politik des Vatikans mit der Bergpredigt, besser wäre, als das Risiko, gar keinen Sozialismus mehr zu haben. Das lässt sich aus Kritikersicht leichter sagen als aus Herrschaftsperspektive. Zugleich ist es aber auch so, wie Georg Fülberth völlig richtig anmerkt: Während in der westlichen Demokratie eine parlamentarische Opposition erwünscht und außerparlamentarische Opposition akzeptiert wird (solang sie sich an die Gesetze hält und nicht die Eigentumsfrage stellt), duldete der Realsozialismus weder eine legale Opposition innerhalb des politischen Systems (selbst innerhalb der Partei bestand stehts die Gefahr, der „Fraktionsmacherei“ bezichtigt zu werden), und schon gar keine APO. Der post-stalinistische Staat hat damit, so Fülberth, viele „Erneuerungschancen vertan“, die dem westlichen System lebensnotwendige Entwicklungsdynamik gaben. Die bürgerliche Demokratie versteht es weitaus geschickter, Opposition und Kritik zuzulassen. Das geht häufig so weit, dass daraus sogar Profit geschlagen wird, sei es durch die Entwicklung politischer Talente und Potentiale, die kooptiert werden können, oder sei es schlicht durch kapitalistische Inwertsetzung (die Hersteller von Che-Guevara-Merchandise werden zustimmen).
Und Bücher, welche die offizielle Geschichtsschreibung kritisieren, so wie es jenes von Siegfried Prokop tut, hätten in der „Ära Ulbricht“ nicht erscheinen können. Damals hatte die SED panische Angst vor „Gegenpropaganda“. Heutzutage ist es problemlos möglich, solche Texte zu veröffentlichen und darüber zu debattieren. Die jüngste Diskussion über die DDR-Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann wurde sogar zum Sommerloch-Thema des deutschen Feuilletons und fand nicht nur in einer linken Nische statt. Die hegemoniale Deutung dieser Schriften ist eine andere Frage. Dass es nicht möglich war, in der DDR solche Diskussion zu führen, sollte nie vergessen werden. Denn die Funktionsweisen linker Denkverbote und Alleinvertretungsansprüche sind nicht mit der DDR verschwunden.
Noch eine kleine Anmerkung zu diesem Thema sei gestattet: Es gibt hinsichtlich der systemischen Grundlagen der Repressionen kaum Unterschiede zwischen Ulbricht und Honecker, und mit Erich Mielke war derselbe Minister für die Unterdrückung oppositioneller Umtriebe unter beiden Staats- und Parteiführern in Verantwortung. Es verwundert daher, dass Mielke (und mit ihm das MfS) in der bisherigen Debatte nicht auftauchen. Der Name wird im gesamten Buch nur einmal am Rande erwähnt. Hier wäre ein kenntnisreicher Debattenbeitrag in der BzG wünschenswert gewesen, gerade um diese Frage nicht allein der hegemonialen DDR-Aufarbeitung zu überlassen.
Dass (Zeit-)Geschichte vom Sieger geschrieben wird, ist eine Binsenweisheit. Die dominierenden Geschichtsbilder entstehen dabei nicht selten bereits in dem Moment, da das Ereignis gerade geschehen ist. Man sieht es aktuell am Beispiel der Ukraine: Derzeit wird bereits darum gerungen, wie die russische Aggression späterhin in den Geschichtsbüchern dargestellt wird, welche Rolle „der Westen“ und Moskau dabei spielen. Was hat dies mit Prokops Buch zu tun? Natürlich ist immer Vorsicht geboten, wenn aktuelle Ereignisse mit historischen verglichen werden. Das moderne, nationalistisch-kapitalistische Russland hat nur wenig mit der Sowjetunion unter Chruschtschow zu tun. Dennoch habe ich mich häufiger beim Lesen dabei ertappt, Vergleiche zum Heute zu ziehen, vor allem, wenn es um die verschiedenen Angebote der Sowjets an den Westen ging, die sich um die deutsche Frage drehten. Und so werden sicherlich die Historiker in ein paar Jahrzehnten darüber streiten, ob die Friedensangebote hinsichtlich des Ukraine-Krieges anno 2022 ff. ernst gemeint waren oder nicht.
Was die Ereignisse vor siebzig Jahren betrifft, so ist sich Eberhard Aurich nicht sicher, ob die östlichen Angebote für eine Wiedervereinigung wirklich ganz ernst gemeint waren. Es bleibt auch Spekulation. Sicher ist hingegen, dass Adenauers BRD kein Interesse hatte. Günter Benser kommentiert dazu passend: „Prokop positioniert sich hier eindeutig: ‚Deutschland wurde im Ergebnis der Westintegration der Bundesrepublik gespalten, während die UdSSR und das SED-Regime von 1945/46 bis 1955 für die Einheit Deutschlands (bzw. seine Wiedervereinigung) gekämpft haben‘ (S. 141). Da wäre der Zusatz angebracht, dass der Osten seinerseits wiederholt Tatsachen geschaffen hatte, mit denen sich der Westkurs vor der Bevölkerung rechtfertigen ließ.“ In diesem Sinne lassen sich viele Deutungen Prokops kritisch lesen, wenngleich seine Fakten und Belege eben auch darauf hindeuten, dass es sich die hegemonialen Geschichtserzähler häufig zu leicht machen und dabei Gegenargumente und Belege ignorieren. Nicht wenige bürgerliche Historiker weisen z. B. die Ernsthaftigkeit der Stalin-Note und weitere Offerten als taktische Manöver zurück, folgen dabei der Lesart der damaligen Bundesregierung bzw. thematisieren diese Angebote kaum. Prokop hingegen prüft sie kritisch auf ihre Seriosität und erwägt mehrfach und aus diversen Perspektiven die Chancen oder Nicht-Chancen, die von diesen Offerten ausgingen.
Man wird diese Fragen wohl nie völlig beantworten können, da die Entscheidungsträger für andere Optionen votiert haben. Siegfried Kuntsche schreibt in seinem Kommentar: „Geschichte erscheint einerseits in ihrer Zwangsläufigkeit und andererseits als offene Situation“. Bücher, wie jenes von Siegfried Prokop, bieten mit ihren Quellen und Fakten die Möglichkeit, offizielle Geschichtsbilder zu hinterfragen, Mythen mit belegten Entgegnungen zu dekonstruieren und die eigene Sicht auf allzu eingefahrene Geschichts- schreibungen zu reflektieren. Das macht sie so lesenswert.