erschienen in:
Alexander Amberger, Jörg Roesler, Christoph Lieber, Klaus Steinitz
Reformen im Realsozialismus der 60er Jahre und ihre politischen Konsequenzen
NÖS, Praxisdebatte, Kybernetik und Demokratischer Sozialismus
Helle Panke e.V. (Hg.): Pankower Vorträge, Heft 217, S. 5 f.
Vorbemerkung
An das fünfzigste Jubiläum des „langen Jahres“ 1968 wird in Berlin und anderswo mit Vernissagen, Vorträgen, Konferenzen und vielfältigen Publikationen erinnert. Im Zentrum stehen dabei als Orte meist westliche Großstädte und als Akteure die dort lebende Intelligenz sowie gegebenenfalls die mit ihr gemeinsam streitende Arbeiterschaft. Die damaligen Ereignisse im Osten Europas finden in diesen vor allem historisierenden Erinnerungen nur am Rande statt. Höchstens wird der „Prager Frühling“ erwähnt, als Aufstand der Bevölkerung gegen die Machthaber in Prag bzw. Moskau, für mehr Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Über die komplexen Hintergründe, ökonomischen und politischen Intentionen, Machtstrukturen und damit zusammenhängenden Vorgeschichten hört man heutzutage allerdings wenig.
Der „Prager Frühling“ war Kulminationspunkt einer Entwicklung, zu der zahlreiche Reformen, Reformversuche und Reformdebatten in Ländern des sogenannten „Ostblocks“ gehörten. Die Menschen dort hofften auf einen Aufbruch aus der Eiszeit, hegten Erwartungen an Veränderungen, die ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern würden. Das Gemeinsame der Wirtschaftsreformen in den verschiedenen realsozialistischen Ländern der 60er Jahre bestand vor allem darin, die notwendigen Bedingungen für ein effektiveres Wirtschaften zu schaffen. Dabei gab es zwischen den Staaten teilweise beträchtliche Unterschiede. Sie betrafen den Inhalt der verschiedenen Reformmaßnahmen, insbesondere jedoch das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen und politischen (Demokratisierung) Reformen. Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre kam es zu einem politischen Umschwung im gesamten „Ostblock“, in dessen Zuge die unterschiedlich weit gediehenen Reformen größtenteils rückgängig gemacht wurden. Damit einher ging eine Desillusionierung der Bevölkerung in Bezug auf mögliche Verbesserungen im materiellen und politischen Bereich.
Die Tagung der Hellen Panke am 27. April 2018 widmete sich den vielfältigen Problemen und Sichtweisen, die mit der Reformierung des Wirtschaftssystems im Realsozialismus dieser Zeit verbunden waren. Sie konnte dabei an zahlreiche Veranstaltungen zum Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung (NÖS) in den letzten 27 Jahren und vor allem an einen Workshop anknüpfen, der vor 18 Jahren unter dem Thema: „… eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte der DDR“ an selber Stelle durchgeführt wurde.
Im ersten Teil der zum vorliegenden Heft gehörigen Veranstaltung ging es vor allem um die Analyse und Bewertung des grundlegenden Inhalts der Wirtschaftsreformen und die dabei geführten Auseinandersetzungen. Die dazu gehaltenen Beiträge von Jörg Roesler, Christoph Lieber und Klaus Steinitz finden sich nachfolgend in einer überarbeiteten Fassung. Im zweiten Teil der Veranstaltung sprachen Judith Dellheim, Boris Kanzleiter, Annette Vogt, Erika Maier und Lutz Brangsch über spezifische Aspekte und Unterschiede in den Reformansätzen einiger Länder sowie Konsequenzen, die aus den damaligen Reformansätzen für die Zukunft gezogen werden können. Beiträge dieses Teils der Tagung erscheinen in einem separaten Heft.
Überlegungen zum Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Reformen anhand der damaligen Erfahrungen unterbreitete Jörg Roesler in seinem Einführungsvortrag. Er machte einige bisher kaum beachtete Unterschiede im Verhalten von Parteiführern der Warschauer-Pakt-Länder gegenüber den Reformbestrebungen in der CSSR deutlich. Leonid Breshnew in Moskau, János Kádár in Budapest und Walter Ulbricht in Ost-Berlin lagen nämlich keinesfalls auf einer Linie. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 muss auch in diesem Kontext betrachtet werden.
Über die fatalen Auswirkungen dieses gewaltsamen Reformabbruchs sprach im Anschluss Christoph Lieber. Er wies darauf hin, dass damit weitere positive Impulse weitgehend zerstört wurden, so etwa eine undogmatischere Kulturpolitik (hierfür exemplarisch steht die Kafkakonferenz von 1963) oder die Theorieproduktion von Radovan Richta, Zdeněk Mlynář, Ota Šik und anderen.
Die Art und Weise der Vorbereitung und Durchführung der Wirtschaftsreform in der DDR „von oben“ sowie deren Konsequenzen standen im Vordergrund des Beitrags von Klaus Steinitz. Er wies an verschiedenen Beispielen, u.a. anhand der vorrangigen Planung strukturbestimmender Aufgaben, nach, wie ihrem Wesen nach gute Ideen durch eine einseitige und völlig überzogene Anwendung zu negativen Ergebnissen geführt und damit diese Ideen auch diskreditiert haben.
Die Reformansätze, um die es in diesem Heft geht, kamen nicht aus der Bevölkerung, sondern sie entsprangen der Wissenschaft oder der Partei. Innerhalb der politischen Strukturen wurde um deren Umsetzung gerungen. Die Bevölkerung sympathisierte nicht selten mit den neuen Ideen und dem Personal, welches diese vertrat. Sowohl materielle Verbesserungen als auch ein Demokratischer Sozialismus entsprachen dem Wunsch der Menschen. Das rigide Ende der Reformen sicherte zwar die Macht der bestehenden Apparatstrukturen. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass es langfristig der Legitimität des „realen Sozialismus“ schweren Schaden zufügte.