Reformen im Realsozialismus der 60er Jahre und ihre politischen Konsequenzen.

Bericht über eine Tagung des Helle Panke e.V., Berlin, 27. April 2018

erschienen in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Heft 115, September 2018

Das fünfzigste Jubiläum des „langen Jahres“ 1968 wird vielerorts mit Vernissagen, Vorträgen und Konferenzen begangen, dazu kommen Features in den Medien, Filme, (auto-)biografische Bücher Beteiligter u.v.m.
Die damaligen Ereignisse im Osten Europas finden in dieser vor allem historisierenden Erinnerungsprozedur maximal am Rande statt. Höchstens wird der Prager Frühling erwähnt, als Aufstand der Bevölkerung gegen die Machthaber in Prag und Moskau. Über die komplexen Hintergründe, politischen Intentionen, Machtstrukturen und damit zusammenhängenden Vorgeschichten hört man nur wenig.
Der Prager Frühling war Kulminationspunkt einer Entwicklung, zu der zahlreiche Reformen, Reformversuche und Reformdebatten in Ländern des sog. „Ostblocks“ und in der Sowjetunion selbst gehörten. Es ging um das Verhältnis zwischen Plan und Markt, um ein Streben nach Emanzipation von Moskau, um mehr politische und volkswirtschaftliche Selbstbestimmung einzelner Staaten. Es ging darum, eigene Wege im Rahmen des engen realsozialistischen Korsetts zu suchen, und das auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft und des politischen Systems, von den jeweils Herrschenden über die Funktionäre in den politischen und/oder wirtschaftlichen Gremien und Apparaten bis hin zu den Studenten und Arbeitern.
Sie alle hatten Hoffnungen auf die Reformen, Erwartungen an Veränderungen. Die Einen hatten eher ökonomische Ziele vor Augen, die Anderen träumten von der Demokratisierung des Sozialismus, um diesen zu erhalten und attraktiver zu machen. Ihn zu überwinden und ein kapitalistisches Wirtschaftssystem wie im Westen einzuführen war für fast alle handelnden Akteure jedoch keine Option.
Ende der 60er Jahre wurden diese Erwartungen mitsamt der Hoffnungen zerstört. Das Scheitern der Reformen trug möglicherweise mit zum späteren ökonomischen und demokratischen Scheitern des gesamten Systems bei. Die Frage bleibt spekulativ, ob die Reformen, hätte man sie umgesetzt, zum Systemerhalt beigetragen oder dessen Niedergang beschleunigt hätten.
Die Tagung zu den „Reformen im Realsozialismus der 60er Jahre und ihren politischen Konsequenzen“ am 27. April 2018 im Berliner Verein „Helle Panke“ widmete sich genau diesen Fragen. Der erste Teil der Veranstaltung gab einen Überblick, der zweite vertiefte das Thema anhand von Fallbeispielen.
Überlegungen zum Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Reformen anhand der Erfahrungen von damals unterbreitete Jörg Roesler in seinem Einführungsvortrag. Er zeichnete die historischen Vorbedingungen nach. In der ČSSR stagnierte zu Beginn der 60er Jahre die Wirtschaft. Schuld war ein Reformstau, den die Partei vorsichtig und ohne Beteiligung von Betriebsfunktionären und Belegschaften zu überwinden suchte. Erst mit dem Amtsantritt von Dubček als Erstem Sekretär der KPČ am 5. Januar 1968 wurde der Weg für Ota Šiks ökonomische Reformideen frei (die Judith Dellheim im zweiten Teil der Konferenz ausführlich vorstellte). Anfang April wurde Šik stellvertretender Ministerpräsident und „Reformbeauftragter“. Während die Moskauer Führung kein Problem mit den zeitgleich unter dem Titel „Neuer ökonomischer Mechanismus“ anlaufenden Wirtschaftsreformen im benachbarten Ungarn hatte, bereiteten ihr die Ereignisse in der Tschechoslowakei Sorge, denn hier ging es um mehr als ökonomische Probleme. Der wenig reformfreudige Breshnew wollte keine Fehlerdebatte, keinen Pluralismus oder mehr Demokratie. Ihm ging es eher um die Demonstration militärischer Stärke im weltpolitischen Machtspiel. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 ist auch in diesem Kontext zu sehen. Wirtschaftsreformen waren unerwünscht. In der DDR führte diese Neuausrichtung zu Ulbrichts Entmachtung. Er hatte sich nicht zu hundert Prozent hinter Breshnew gestellt, wollte selbst Wirtschaftsreformen und mehr ökonomische Unabhängigkeit von Moskau anstreben. Seine Nachfolge trat Erich Honecker an, dessen Wirtschaftspolitik enger mit Moskau verbunden war.
Über die fatalen Auswirkungen des gewaltsamen Reformabbruchs sprach im Anschluss Christoph Lieber. Seiner Meinung nach wurden damit auch alle anderen positiven Impulse innerhalb des Staatssozialismus grundsätzlich zerstört, so etwa eine undogmatischere Kulturpolitik (Kafkakonferenz) oder die Theorieproduktion von Radovan Richta, Zdeněk Mlynář, Ota Sik und anderen. Deren Reformideen gefährdeten die Kader- und Apparatstruktur des bolschewistischen Systems. Nach Stalins Tod wurden, so Lieber, die Kader verunsichert. Erst unter Breshnew bekamen sie wieder eine klare Linie und gewannen an Macht zurück. Die Reformen unter Dubček stellten für die Kader wiederum einen Unsicherheitsfaktor dar. Der nach 1969 eingeführte Wohlfahrtsstaat tschechoslowakischen Typs sollte für Ruhe bei den Kadern und in der Bevölkerung sorgen. Ohne die Überwindung der bolschewistischen Parteistruktur seien folglich keine erfolgreichen Wirtschaftsreformen machbar gewesen, so Lieber.
Diese These wurde anschließend von Klaus Steinitz untermauert, der sich als damals Beteiligter an das Neue Ökonomische System in der DDR erinnerte. Die Wirtschaftsreformen wurden „von oben“ von der Parteiführung konzipiert und durchgesetzt. Interne Machtkämpfe zwischen den führenden Akteuren aus Politik und Wirtschaft, Moskaus langer Arm sowie dogmatische Einengungen behinderten eine erfolgreiche Entfaltung der Reformen. Treibende Kraft hinter dem NÖS war Walter Ulbricht. Er wollte mit den Wirtschaftsreformen das Land weiterentwickeln, ohne es zu demokratisieren. Seine parteiinternen Kontrahenten um Honecker und Stoph waren gegen das NÖS. Nach dem Ende der Reformpolitik in Prag wurde mit Moskaus Gnade auch das NÖS in der DDR beendet und Honecker durfte Ulbricht ablösen.
Waren die Reformen in der DDR zum Großteil „von oben“ bestimmt, so verhielt es sich in Jugoslawien anders. Hier gab es eine breite Studentenbewegung, wie Boris Kanzleiter zu berichten wusste. Gemeinsam mit Intellektuellen und inspiriert durch Herbert Marcuse hatten sie das Ziel, die Arbeiterselbstverwaltung wieder zu beleben, weiterzuentwickeln und den Betriebsegoismus bei der Planung zu überwinden. Hierzu wurde u.a. die Universität Belgrad besetzt, wobei die Parteiorganisation Streiks und Proteste unterstützte.
Judith Dellheim schildete anschließend, wie erwähnt die Reformideen in der Tschechoslowakei, wie sie vor allem in Ota Šiks zentralem Buch „Plan und Markt im Sozialismus“ formuliert worden sind.
Die bisher genannten Reformideen und Planungskonzepte gingen zumeist „von oben“ aus, d.h. sie fußten auf dem Primat der Politik über die Ökonomie. Politische Entscheidungsträger, Staats- und Parteifunktionäre und deren bürokratische Apparate erhoben einen Alleinentscheidungsanspruch. Meinungen aus der Wissenschaft oder von Wirtschaftsfachleuten wurden nicht selten mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Selbst in der ČSSR konnten die Reformen erst eingeleitet werden, nachdem es das Okay aus der Politik gab. Und hier waren für die Ideen Ökonomen zuständig. Wie viel schwerer es da z.B. Mathematiker hatten, sich Gehör zu verschaffen, schildete die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt am Beispiel des sowjetischen Mathematikers Leonid W. Kantorowitsch. Dieser hatte sich schon 1939 mit mathematischen Lösungen für Transport- und Logistikfragen befasst. Während orthodoxe Wirtschaftsfunktionäre im Osten seine Ideen blockierten, da sie im Recht sein wollten, trafen diese Ansätze ausgerechnet in den USA auf offene Ohren und traten später dort im System der linearen Programmierung erfolgreich in Erscheinung. Für die mathematisch bzw. dann computergesteuerte Planung der Wirtschaft mit dem Ziel eines ökonomischen Gleichgewichts war Kantorowitsch ein Pionier.
Lutz Brangsch und Erika Maier diskutierten abschließend über die Lehren, die Linke heute aus den damaligen Versuchen ziehen können. Neben den progressiven Ideen seien es die Erfahrungen des Scheiterns, die man nicht vergessen dürfe. Sie mahnten mehr Realismus und weniger Euphorie auf dem langen Weg zum Sozialismus an.
Doch hat nicht genau dieser Überhang von zu viel Realismus gegenüber zu wenig Utopie dem „Realsozialismus“ geschadet? Hätte man die Reformen erst gar nicht angehen sollen, um die Jugend nicht zu stark für den (demokratischen) Sozialismus zu begeistern? Waren die Erwartungen zu hoch und ist die Enttäuschung deshalb noch höher ausgefallen? Sollte eine Linke also weniger träumen und sich nur im Hier und Jetzt für kleine Verbesserungen einsetzen? Viele Fragen blieben offen. Am nächsten Tag wurden sie anhand der 68er-West in einer zweiten Konferenz weiterdiskutiert. Beiträge beider Veranstaltungen erscheinen sowohl zum Nachhören in der Mediathek der Hellen Panke als auch in gedruckter Form. Beides zu finden unter www.helle-panke.de