Versachlichung

Rezension von:
Marcus Böick, Anja Hertel, Franziska Kuschel (Hrsg.): Aus einem Land vor unserer Zeit. Eine Lesereise durch die DDR-Geschichte, 320 Seiten, Metropol Verlag Berlin, 19,00 Euro

Leicht modifiziert zuerst veröffentlich in: neues deutschland, Beilage zur Frankfurter Buchmesse, 10.-14. Oktober 2012

Es sind durchweg junge Wissenschaftler, um 1980 und zumeist in der DDR geboren, die hier ihre Forschungsergebnisse präsentieren. Ihr Blick ist erfrischend anders als der ihrer älteren Kollegen.
Dass die heutige DDR-Geschichtsschreibung Gefahr laufe, „ein dualistisches Weltbild zu konstruieren und eine historische Teleologie zu suggerieren, der zufolge die deutsche Geschichte über Irr- und Umwege von zwei Diktaturen mit dem Jahr 1990 ihr Happy End gefunden zu haben scheint“ kritisiert Vanessa Ganz in ihrem Beitrag zu einem neu erschienenen Sammelband. Sie trifft damit den Nagel auf den Kopf, denn in vielen heutigen Darstellungen wird die DDR weder zeithistorisch, noch im internationalen Kontext verortet. Das liegt möglicherweise auch an der geringen zeitlichen Distanz zum Forschungsobjekt und dem daraus hervorgehenden Mangel an wissenschaftlicher Nüchternheit der oftmals selbst auf irgendeine Weise in die DDR-Geschichte involvierten Historiker. Nun war abzusehen, dass dieses Manko nicht ewig währen würde, denn nachrückende Forschergenerationen haben keinen oder kaum einen subjektiven empirischen Bezug zur DDR. Die Frage ist bei dieser nachrückenden Generation dann auch eher, inwieweit sie durch die politisierten Geschichtsbilder der letzten beiden Dekaden beeinträchtigt wurde.
Der Sammelband enthält Beiträge von 25 dieser jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie alle sind (Ex-)Stipendiaten der Bundesstiftung Aufarbeitung, um 1980 und zumeist in der DDR geboren, und sie liefern jeweils kurze Einblicke in ihre Forschungsprojekte. Natürlich gibt ein Sammelband kein homogenes Geschichtsbild ab. Manche der Beiträge fallen denn auch durch ein schematisches und verkürztes DDR-Bild auf. Es gibt jedoch nicht wenige Texte in dem Buch, die Neues zeigen, die neugierig machen, die um ein sachliches Erforschen der DDR bemüht sind. Die Herausgeber, drei junge Mitautoren des Buches, erheben bereits im Vorwort den Anspruch, die DDR innerhalb der gesamtdeutschen Zeitgeschichte von vor 1945 bis heute verorten zu wollen.
Das inhaltliche Spektrum ist dabei weit gefasst, und auch qualitativ ist von Altbekanntem bis Informativem alles vertreten. Das hängt natürlich auch vom Wissensstand des Lesenden ab: Wer bisher wenig vom Alltag in der DDR weiß, kann sich über das Parteileben eines einfachen Mitglieds ebenso informieren, wie über die Umsetzung der gestalterischen Ziele Halle-Neustadts oder Jens Biskys Jugend im Osten. Wer altbekannte Aufarbeitungsärgernisse sucht, wird z. B. bei den Beiträgen über das Ehrenmal im Treptower Park, über Karl Eduard von Schnitzler oder die ehemaligen NSDAP-Kader in der SED fündig.
Jedoch wird in den meisten Beiträgen differenziert analysiert: So beschreibt etwa Ulrich Eisele die Vorgeschichte des UNO-Beitritts der beiden deutschen Staaten 1973 und bezieht die weltpolitischen Konstellationen mit ein. Lisa Schoss berichtet Interessantes über das Judenbild im DEFA-Film. Und die Analyse heutiger DDR-Geschichtsbilder im Film und im Theater (mit einer harschen Kritik am SAT1-Schinken „Die Frau vom Checkpoint Charly“) unternimmt die eingangs erwähnte Vanessa Ganz.
Auch die Geschichte nach 1990 wird thematisiert. So schildert Marcus Böick kritisch die Rolle der Frauen auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen der Treuhand-Anstalt. Und Sebastian Richter rekapituliert die Streitigkeiten zwischen den ehemaligen „Bürgerrechtlern“ nach 1990. Erwähnenswert ist nicht zuletzt auch der Text von Eyk Henze über die Editionsgeschichte der Lyrikreihe „Antwortet uns!“. Der Autor befasst sich mit dem Bemühen, in der DDR-Frühphase Lyrik populärer zu machen. Dazu wurde die erwähnte Buchreihe als Plattform für junge Lyriker gegründet. Henze beschreibt, dass die Reihe nicht profitorientiert ausgerichtet war, dass zwischen 1956 und 1962 insgesamt 30 Bände erschienen und dass die Bücher trotz niedriger Preise nur eine geringe Nachfrage erzielen konnten, weshalb die Reihe letztlich eingestellt wurde. Was er allerdings nicht erwähnt, ist, dass der spätere Dissident Rudolf Bahro als noch unbekannter junger Autor im Jahr 1960 mit „In dieser Richtung“ einen Gedichtband mit Oden an den Kommunismus in dieser Lyrikreihe publizierte.
In weiteren Beiträgen werden Entwicklungen in osteuropäischen Staaten nach 1990 untersucht und am Ende des Buches findet sich ein Interview mit Bernd Faulenbach, dem Direktor der Stiftung Aufarbeitung. Dieser thematisiert den Stand und die Zukunft der DDR-Aufarbeitung, wobei er für mehr Differenziertheit plädiert, und sich gegen die Totalitarismusdoktrin und einen moralisierenden Täter-Opfer-Schematismus ausspricht.
Man kann natürlich noch nicht sagen, wohin die Reise der DDR-Geschichtsschreibung geht. Die Grundtendenz dieses Sammelbandes macht aber zumindest Hoffnung auf eine zunehmende Versachlichung der Debatte.