Rezension zu Uli Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“?

Uli Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1917-1929). Dietz, Berlin 2021, 983 Seiten in zwei Bänden, 49,90 €. ISBN: 978-3-320- 02385-0.

Erschienen in: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft 63, März 2023, S.105f.

Es war ein denkbar unglücklicher Zeitpunkt, als Ulrich Schöler Mitte Oktober 1989 seine Dissertation über die Rezeption der russischen Entwicklung von 1917 bis 1929 in der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie einreichte. Die Lehren, welche die Linke aus den frühen Jahren der Sowjetunion hätte ziehen können, waren plötzlich obsolet, da es die UdSSR bald nicht mehr gab, und die Linke damit in eine existenzielle Krise schlitterte, aus der sie sich bis heute nicht befreien konnte.
Dabei geht es in Schölers Arbeit um entscheidende Weichenstellungen nach dem Revolutionsjahr 1917 und darum, wie diese kritisiert, diskutiert und mit alternativen Vorschlägen flankiert worden sind. Das Buch erschien 1991 beim LIT-Verlag. Zwar gab es Lob von namhaften RezensentInnen wie Jürgen Kuczynski oder Helga Grebing, eine breite Debatte löste das Werk jedoch nicht mehr aus und geriet bald in Verges- senheit.
Der Berliner Dietz Verlag hat sich drei Jahrzehnte später getraut, die umfangreiche Schrift in einer neuen, zweibändigen Ausgabe wieder zu veröffentlichen. Die Leserschaft erwartet das Resultat einer enormen Fleißarbeit, die Schöler noch vor dem Mauerfall in verschiedenen Archiven geleistet hat. Er hat seine Forschungen eingegrenzt auf die theoretische Rezeption und folglich Adaptionen sowjetischer Politik in die Praxis ausgeklammert. Ebenso hat er die Rezeption außerhalb der sozialistischen Theorie ausgespart. Übrig blieb dennoch eine Fülle von Forschungsmaterial; Primärquellen, Zeitungen, Protokolle u. a. m.
Diese Quellen ordnet er fünf Strömungen zu, die im Buch vor dem Hintergrund der fortschreitenden russischen Entwicklung vergleichend nachgezeichnet werden. Eine Strömung ist die SDAP, die österreichische Sozialdemokratie, und hier vor allem Otto Bauer. Dessen Charakterisierung des Bolschewismus als „Despotischem Sozialismus“, der sich weiterentwickeln und emanzipieren könne, folgte die SDAP weitestgehend. Eine zweite Strömung sind die Exil-Menschewiki, die in Schölers Dissertation erstmals überhaupt in dieser Breite rezipiert worden sind. Sie übten erwartungsgemäß Kritik am Kurs der Bolschewiki. Als dritte Strömung wird Spartakus/KPD betrachtet, die weitestgehend auf Moskaus Linie war, wenngleich sich die Kurs- und Personalwechsel in der Partei in der Rezeption widerspiegelten und Kritiker wie Paul Levi rezipiert werden. Als Viertes analysiert Schöler die MSPD, welche die Auflösung der Konstituante und den Antiparlamentarismus nach 1917 ablehnte und auf eine baldige Niederlage der Bolschewiki hoffte. Fünftens wird die USPD untersucht, die zunächst die Ereignisse begrüßte, im Verlauf der Entwicklungen aber immer weiter von Moskaus Kurs, von Terrormaßnahmen und der sowjetischen Dominanz in der Komintern abrückte. Karl Kautsky, der zunächst in der USPD, später wieder in der SPD zu finden war, lehnte Moskaus Kurs gleichfalls rigoros ab, bezeichnete das System als „Staatssklaverei“ und sah es – im Unterschied zu Bauer – als nicht reformierbar an.
Es ist unmöglich, an dieser Stelle ins Detail zu gehen, viel zu materialreich ist Schölers Buch. Unterteilt ist es in acht Kapitel: Revolutionszeit, „Kriegskommunismus“, Demokratie oder Diktatur, Bolschewismus und Internationale, NÖP, Haltung zum Faschismus, innerbolschewistische Differenzen sowie Auswirkungen auf sozialdemokratische Programme. Jeweils werden hierzu für jede Strömung die Rezeption nachgezeichnet, Haltungen von Protagonisten geschildert, Meinungsverschiedenheiten analysiert und die Distanzierung zu anderen linken Lagern rekapituliert. Wer sich mit den deutschen und österreichischen Arbeiterparteien der Zwischenkriegszeit beschäftigt, kommt an Schölers Werk nicht vorbei.