125 Jahre deutscher Imperialismus. Die Kolonialpolitik des Kaiserreichs aus Sicht der Betroffenen und die Haltung der Linken damals und heute

Bericht über die Konferenz am 28. November 2022 im Afrikahaus Berlin

Erschienen in: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft 63, März 2023, S.48-50.

Am 6. Dezember 1897 forderte der Staatssekretär des Äußeren und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow im Reichstag: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Diese „Zeitenwende“ markierte vor 125 Jahren eine Abkehr von Bismarcks ausgleichender Außenpolitik hin zu Kolonialismus und aggressivem Expansionismus. Als Industriemacht benötigte das Reich Zugang zu Rohstoffen und Arbeitskräften. Deren Ausbeutung brachte viel Leid, woran die Moderatorin Karlen Vesper in ihrer Be- grüßung erinnerte.
Im Inputvortrag ging Dr. Stefan Bollinger der Frage nach, ob „der Imperialismus – ein Zombie?“ sei. Der Referent überprüfte hierzu Lenins Theorie auf Aktualität. Die Existenz von Monopolkapital und dessen Einfluss auf Politik und Medien, um expansive Ziele zur Profitsicherung mit jeweils geeigneten Mitteln durchzusetzen, gebe es noch heute. Die Namen der Konzerne und der dahinterstehenden Dynastien haben sich teils geändert, das Prinzip aber bestehe fort. Haupthindernisse des heutigen Expansionismus seien Russland und China, die im Zuge von 1989 ff. nicht (voll) erobert werden konnten. Das sei die Ursache aktueller Großkonflikte. Linke sollten dies im Blick haben, mit Internationalismus gegenwirken und nicht Liebknechts Analyse vergessen, wonach „der Hauptfeind im eigenen Land“ stehe.
Den Einstieg in die Geschichte des 19. Jahrhunderts übernahm Dr. Ralf Hoffrogge. Auf Grundlage seines Buches “Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich – Von den Anfängen bis 1914” (2011/17), ging er auf damalige Kolonialdebatten ein: Internationalismus habe es schon vor Marx gegeben, etwa in Weitlings Sozialutopie. Politisch konkret wurde er 1891 im Erfurter Programm der SPD verankert. Ein Blick in damalige Reichstagsreden zeigt die praktische Umsetzung. Bebel verurteilte z. B. den Kolonialismus und dessen christliche „Zivilisierungs“-Propaganda als heuchlerisch und machte schon 1894 öffentlich deutlich, dass es um Profit, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt gehe. 10 Jahre später klagte er im Reichstag den Völkermord an Herero und Nama an. Heute könne deshalb niemand behaupten, dieser sei damals nicht bekannt gewesen.
Der live aus Lomé zugeschaltete Stefan Seefelder berichtete über die Geschichte und den Mythos der „Musterkolonie“ Togo, zugleich Thema seiner von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Dissertation, für die er vor Ort recherchierte. 1884 habe Gustav Nachtigal gegen Bismarcks Willen die deutsche Flagge am Strand von Togo gehisst. Es wurde deutsches Schutzgebiet, um eigene Interessen gegen konkurrierende Briten und Franzosen zu sichern. Hernach erfolgte der Ausbau der Kolonie. Ab 1918 wurde der Mythos erschaffen, dass die Deutschen hier als gute Kolonialherren aufgetreten seien. Diese Erzählung hielt sich bis in die Siebzigerjahre.
Dr. Mirjam Sachse vom Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel berichtete über die Koloniale Frauenschule in Witzenhausen, die mit einem kurzen Vorlauf von 1907 bis 1910 Bestand hatte. Die Absolventinnen sollten für ein Leben als Siedlerfrau ausgebildet werden. Neben Tropenlandwirtschaft stand Hausarbeit auf dem Lehrplan. Das Konzept der Schule ging nicht auf, es gab nur 13 Schülerinnen, von denen ganze 6 einen Abschluss erzielten. Als Archivquelle griff Mirjam Sachse u. a. auf „Kolonie und Heimat“ zurück, die Zeitung des „Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft“. Die Zeitung ist als Digitalisat frei im Internet zu finden.
Mit Zeitungsartikeln aus dem „Vorwärts“ der 1880er-Jahre stieg Klaus Leesch in sein Referat über Eduard Bernsteins Kolonialismus-Begriff ein. Zu dieser Zeit begrüßte der Mitbegründer der SPD den Kampf der Ägypter gegen die britischen Kolonialherren. Ein Jahrzehnt später änderte sich seine Haltung zur Kolonialfrage. Unter dem Einfluss der marxistischen Formationslehre vertrat er nun die Meinung, dass die „Wilden“ erst zivilisiert werden müssten, um die entsprechende Reife für den Übergang zum Sozialismus zu erreichen. Er sympathisierte wenige Jahre später mit den Briten gegen die vermeintlich rückständigen Buren in Südafrika. Die „höhere Zivilisation“ habe ein Recht auf die Nutzung des Bodens, der nicht a priori den Eingeborenen oder bisher dort Lebenden gehöre. Die „höhere Zivilisation“ könne diesen ertragreicher bestellen, woraus sich ihr Vorrecht ableite. Bernstein unterschied dabei „guten“ von „weniger gutem Kolonialismus“. Ersterer gewähre den Kolonialisierten eine größtmögliche Autonomie, letzterer nicht. Bernstein schrieb einem „richtig“ durchgeführten Kolonialismus ein Emanzipationspotenzial zu, das den Übergang zum Sozialismus ermögliche.
Dass diese Meinung eine Minderheitenposition in der Sozialdemokratie war, beschrieb Dr. Holger Czitrich-Stahl in seinem Referat über Georg Ledebour. Die- ser widersprach Bernstein in der Debatte 1907 auf dem „Internationalen Sozialistenkongress“. Eine solche „Zivilisationspolitik“ bringe nur kapitalistische Bevormundung. Kolonialismus könne nicht zivilisatorisch oder kulturell sein, sondern führe zu Verbrechen und Ausbeutung in den Kolonien. Ledebour sei kein Vertreter „weißer Arroganz“ gewesen, sondern forderte internationale Solidarität. Revisionistische Wunschträume, in denen durch Kolonisierung etwas für Emanzipation und Entwicklung einer Zivilgesellschaft getan würde, verwiesen auch Lenin und Rosa Luxemburg ins Reich der Märchen. Beide sahen den Kolonialismus als Ergebnis und Bestandteil des Kapitalismus und an diesen gebunden, wie Dr. Christin Bernhold unterstrich. Sie verglich in ihrem Beitrag die Imperialismustheorien von Lenin und Luxemburg. Beide stimmten überein, dass das Problem des Kolonialismus innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft nicht zu überwinden sei, wie manche Sozialdemokraten annahmen.
Im abschließenden Panel kritisierten der Historiker Dr. Joachim Zeller und der Aktivist Israel Kaunatjki, die jeweils in Namibia geboren wurden und heute in Berlin leben, die postkoloniale Aufarbeitung in der Bundesrepublik. Kaunatjki warf den Grünen und der SPD vor, sich seit ihrer Beteiligung an der aktuellen Bundesregierung nicht mehr für eine konsequente Aufarbeitung und Entschädigung einzusetzen. Somit verbleibe DIE LINKE als einzige Partei im Bundestag auf diesem Kurs. Zeller erwähnte Erfolge, wie Straßenumbenennungen oder die Rückgabe vereinzelten Raubguts. Auch gebe es immerhin eine öffentliche Debatte um das Thema. Andererseits verwies er auf das Humboldtforum als Negativbeispiel. Hier sei ein „failed Museum“ entstanden, ohne vorheriges Nut- zungskonzept, mit einer schlecht kuratierten Ausstellung von Exponaten, die aus den ethnologischen Sammlungen Dahlem herbeigeschafft wurden. Es gebe ganze drei Stellen für Provenienzforschung für die 600.000 Objekte, was „mehr als ein Witz“ sei.
Die historische Aufarbeitung des Kolonialismus bleibt eine Mammutaufgabe. In den Archiven (der Arbeiterbewegung) gibt es hierzu noch viel zu bearbeiten. Aufgrund der derzeitigen Weltlage sind die Lehren aus historischem Kolonialis- mus und Imperialismus(-theorien) für die Linke eine Neubeschäftigung wert. Die Beiträge der Konferenz werden als Publikation erscheinen und sind in der Mediathek der Hellen Panke nachhörbar (www.helle-panke.de).