Imperialismus und Kolonialpolitik des Kaiserreichs

Bericht über eine gemeinsame Konferenz der „Hellen Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin und dem Farafina Afrika-Haus e.V. am 28. November 2022
Zuerst publiziert in „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“, Heft 133, März 2023, S.168ff.

Das Afrika-Haus in Berlin-Moabit ist ein Ort öffentlicher Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Gemeinsam mit „Helle Panke“ e.V. – Rosa- Luxemburg-Stiftung Berlin stellte sich hier eine Konferenz der Haltung der Arbeiterbewegung zur Kolonialpolitik im Kaiserreich: „125 Jahre deutscher Imperialismus. Die Kolonialpolitik des Kaiserreichs aus Sicht der Betroffenen und die Haltung der Linken damals und heute“. Karlen Vesper (Berlin) erinnerte eingangs, dass Bismarck noch kein Anhänger kolonialen Strebens war. Seine Nachfolger hingegen vertraten die Interessen einer imperialistischen Macht mit kolonialen Ansprüchen. Am 6. Dezember 1897 forderte der spätere Reichskanzler von Bülow einen „Platz an der Sonne“ und Kolonien für Deutschland.
Stefan Bollinger (Berlin) fragte in seinem Input-Vortrag, ob der Imperialismus ein „Zombie“ sei und stellte vier Überlegungen an: 1. In Anlehnung an Lenin erinnerte er an die Rolle von Monopolkapital bei der Findung und Durchsetzung politischer Entscheidungen. 2. Die Sozialdemokratie habe vor 1914 auf internationale Solidarität gesetzt. Der Weltkrieg zeigte ihre mehrheitliche Kapitulation vor der imperialistischen Strategie. 3. Hat der Imperialismus „7 Leben“? Hier verwies Bollinger darauf, dass die Namen und Eigner der Monopole zwar wechseln, die Rollenverteilung aber die gleiche bleibe. Und 4. sei der größte Triumph des Imperialismus der Sieg über den Kommunismus um 1990 gewesen, Russland und China konnten aber nicht oder nur teilweise erobert werden. Dies sei die Situation bis heute, mit der sich Linke auseinandersetzen müssten.
Ralf Hoffrogge (Berlin) griff die Bedeutung des Internationalismus auf, den es schon vor Marx gegeben habe. Später, nach dem Ende des Sozialistengesetzes, war die Lage anders. Im Erfurter Programm von 1891 wandte sich die SPD gegen Ausbeutung auf Basis von Klasse, Partei, Geschlecht oder Rasse. Diese Kategorien wurden nicht biologistisch, sondern politisch abgeleitet. Damit sei das Programm noch heute „sehr modern“. In der Praxis war die SPD im Reichstag Anwalt für die Kolonisierten und prangerte öffentlich die Kolonialpolitik an. Sie war aber kein Dialogpartner und hatte wenig Ahnung von den konkreten Zuständen vor Ort, da nie ein Abgeordneter der SPD eine Kolonie besucht hatte; daher wohl auch der Rückgriff auf Stereotype.
Mit der konkreten Imperialismusgeschichte in der „Musterkolonie“ Togo beschäftigte sich Stefan Seefelder (Potsdam), live aus Togo zugeschaltet. Togo war eine kleine deutsche Kolonie, aber die größte „Musterkolonie“. Dahinter verbirgt sich ein Propagandamythos, dass dort ein besonders gutes Verhältnis zwischen Deutschen und Einheimischen geherrscht habe. Diese Erzählung hielt sich in der BRD bis in die 1970er Jahre. Seefelder dekonstruierte den Mythos und schilderte koloniale Unterwerfung.
Mirjam Sachse (Kassel) berichtete über die Koloniale Frauenschule in Witzenhausen, die 1908 bis 1910 existierte. Für Männer wurde im selben Ort 1899 eine Kolonialschule gegründet, die eine wichtige Institution des deutschen Kolonialismus war. Ausgebildet wurden Diplom-Kolonialwirte. 2.308 Absolventen durchliefen die landwirtschaftliche Ausbildung für kommende Siedler. Die Frauenschule sollte ähnliche Inhalte haben und zudem eine Hauswirtschaftsausbildung. Es gab aber nur 6 Absolventinnen. Das Problem war, dass Proletarierinnen nicht erwünscht waren, sondern gebildete Frauen aus höheren Schichten, die dann in den Kolonien als Siedlerfrauen Hausarbeit verrichten sollten. Das Konzept scheiterte mangels Bewerberinnen. Noch heute sitzt in Witzenhausen ein Institut für Tropenlandwirtschaft, an dem sich in letzter Zeit junge Leute mit der Kolonialgeschichte auseinandersetzen und z.B. antikoloniale Stadtrundgänge anbieten.
Anschließend ging es um zwei Protagonisten der Vorkriegs-SPD und deren konträre Sichtweisen auf den Kolonialismus. Eine Minderheitenposition vertrat Edu- ard Bernstein, den Klaus Leesch (Berlin) vorstellte. Begrüßte Bernstein in Zeitungsartikeln aus den 1880er Jahren noch den ägyptischen Befreiungskampf gegen die Briten, so änderte sich ab 1895 dessen Haltung zur Kolonialfrage. In einem Artikel über den Goldboom in Südafrika interpretierte er die marxistische Formationslehre, wonach die „Wilden“ erst zivilisiert werden müssten, um für den Sozialismus reif werden zu können. Es sei legitim, wenn „Wilde“ durch die „höhere Kultur“ auf eine neue Zivilisationsstufe gezwungen würden – wenngleich er nicht jedes Mittel für legitim hielt. Gewalt und Unterdrückung lehnte er ab. Nach 1914 äußerte sich Bernstein nicht mehr zur Kolonialfrage, sondern habe sich für Völkerrecht, Frieden und das Selbstbestimmungsrecht aller Völker eingesetzt.
Anschließend referierte Holger Czitrich-Stahl (Berlin) über Georg Ledebour, der die Kolonialpolitik ablehnte und diesen Standpunkt im Reichstag für die SPD-Fraktionsmehrheit vertrat. 1907 erschien „Die deutsche Kolonialpolitik“, Ledebours publizistisches Hauptwerk zum Thema, verfasst für die Fraktion. Er berichtete über mehrere antikoloniale Anträge der SPD-Fraktion, die alle zurückgewiesen wurden. Ledebour widersprach Bernstein: Kolonialismus im Kapitalismus könne nicht zivilisatorisch oder kulturell sein.
Ins gleiche Horn stießen Lenin und Rosa Luxemburg in ihren Imperialismustheorien. Christin Bernhold (Hamburg) stellte diese vergleichend vor. Lenin und Luxemburg sahen Kolonialismus als Ergebnis der kapitalistischen Produktions- weise und an diese gekoppelt. Sie waren sich einig, dass im Kapitalismus Imperialismus und Krieg nicht überwunden werden könnten, sondern systemimmanent seien. Luxemburg sah im Kolonialismus eine Folge des Expansions- und Profitzwangs. In ihrer Schrift „Die Akkumulation des Kapitals“ geht sie diesbezüglich auf den Kolonialismus ein. Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ sah den entwickelten Monopolkapitalismus als letztes Stadium des faulenden Systems.
Im abschließenden Gespräch kritisierten die beiden in Namibia geborenen und in Berlin lebenden Historiker und Aktivisten Joachim Zeller und Israel Kaunatjki die schleppende Aufarbeitung der Kolonialzeit in Deutschland. Nur noch die LINKE sei für eine konsequente Aufarbeitung und Entschädigung. Seit sie in der Regierung seien, unterstützten Grüne und SPD nicht mehr die Interessen von Herero und Nama, so Kaunatjki. Zeller berichtete über das Ringen um Straßenumbenennungen in Berlin und anderswo. Das „unsägliche“ Humboldtforum sei ein „failed Museum“, gefüllt mit Archivgut aus den ethnologischen Sammlungen Dahlem, die vorher kaum jemanden interessiert hätten. Der Bau verschlang 1 Mrd. Euro, ohne dass es ein Nutzungskonzept gab. Wenig später habe die postkoloniale Debatte die Museumsmacher förmlich „überrollt“. Sie versuchten „nachzubessern“, mit drei Stellen für Provenienzforschung – und das für 600.000 Objekte. „Mehr als ein Witz“, so Zeller, dessen Fazit für die gesamte Konferenz gelten kann: Das Thema Postkolonialismus wird nicht mehr verschwinden, bis die Aufarbeitung passiert ist.

Die Beiträge können auf www.helle-panke.de nachgehört werden. Eine Publikation ist in Vorbereitung.
Alexander Amberger