Rezension von Sabine Pannen: „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979–1989“

Sabine Pannen: Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979–1989, 360 Seiten, Ch. Links Verlag, Berlin 2018, ISBN: 978-3-96289-004-9, 40 Euro

Erschienen in: „Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung„, Heft 56, September 2019, S. 70-72.

Vor 30 Jahren endete die Existenz der SED-Herrschaft. Vielerorts wird dieser Tage daran erinnert, werden Geschichts- und Rollenbilder verfestigt oder modifiziert. In die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sind Millionen geflossen, tausende Publikationen beschäftigen sich noch heute damit. Anders als in den neunziger Jahren ist mittlerweile mehr Sachlichkeit eingezogen. Die mit der finanziellen Unterstützung einhergehende politische Umklammerung der DDR-Forschung lässt nach, was wohl auch biologisch zu erklären ist: Jüngere Forscher sind nicht mehr unmittelbar mit der DDR verbunden, ob positiv oder ne- gativ besetzt. Zu dieser Generation gehört die 1980 in Westdeutschland geborene und heute in Kopenhagen lebende Historikerin Sabine Pannen. Assoziiert als Doktorandin am ZZF Potsdam hat sie im Mai 2017 an der Humboldt-Universität bei Martin Sabrow und Dorothee Wierling über das letzte Jahrzehnt der SED aus Sicht ihrer Mitglieder promoviert. Bis heute ist der nahezu widerstandslose Zerfall der DDR und ihrer Massenorganisationen das wohl Erstaunlichste am Herbst 1989. Wie war es möglich, dass ein stabil erscheinendes System innerhalb weniger Wochen kollabierte? Ein Ereignis, das selbst westliche Politiker kalt erwischte? Deren Agieren sowie die Handlungen der Spitzenfunktionäre in Moskau, Berlin und Budapest sind hinlänglich erforscht. Beteiligte Eliten haben ihre Memoiren veröffentlicht; Reformer, Oppositionelle, Bürgerrechtler erzählen ihre Versionen. Die Parteibasis der SED haben sich bisher jedoch nur wenige Wissenschaftler angesehen. Das verwundert etwas, denn auf dem Höhepunkt der Mitgliederentwicklung 1987 gehörten etwa 2.3 Millionen Menschen der SED an oder zählten zum Kandidatenkreis. Ca. jeder sechste DDR-Bürger war somit in der Partei. Honeckers Gesellschaftsmodell nach dem Motto „Wo eine Genosse ist, da ist die Partei“ musste bei solch einer Basis eigentlich auf festen Füßen stehen. Wie Sabine Pannen herausarbeitet, wurden diese in den letzten Jahren immer tönerner. Die Gründe sind mannigfaltig und liegen ihrer Meinung nach in politischen Entscheidungen der Parteiführung begründet, die in ihrer Summe dazu führten, dass das Vertrauen der Basis latent schwand.
„Eine historische Soziologie der SED-Mitgliederschaft steht bisher aus“ (25). Pannen will nun wissen, wie die einfachen Mitglieder tickten, warum sie montags nach Feierabend freiwillig in dröge Parteiversammlungen gingen, was ihr Antrieb für das Mitmachen war – und warum sie 1989/90 so plötzlich das sinkende Schiff verließen, dem sie zuvor die Treue geschworen hatten.
Sie beschreibt einleitend die Organisation einer zentralistischen „Partei Neuen Typs“ mit der Dreigliederung in wenige Spitzenfunktionäre, Funktionseliten (in den 80-ern ca. 40%) und einfache Mit- glieder. Für 1988 etwa weist die Mitgliedschaft einen Anteil von 33 Prozent Arbeitern aus. (44) Inwieweit es sich dabei tatsächlich um aktive Industriearbeiter handelte, lässt sich nicht mehr konstruieren. Sie beschreibt zudem die elitensoziologische Schließung im Laufe der Jahre – von der relativen Leichtigkeit einer Parteikarriere für Neumitglieder und loyale Quereinsteiger in den Anfangsjahren bis zur fast geschlossenen Reproduktion der Funktionselite in späteren Jahrzehnten.
Pannen stützt sich auf mehrere Quellen: Neben den wenig aussagekräftigen, da bürokratisch-formelhaft verfassten Parteiprotokollen und -dokumenten aus dem SAPMO-Archiv und dem Brandenburgischen Landesarchiv werden die Stimmungsberichte des MfS (ZAIG-Berichte) der 80-er Jahre hinzugezogen. Sie wurden heimlich erhoben und sagen schon mehr über die echte Stimmung in der Bevölkerung aus. Für die Endphase kommen zudem die Anfragen von SED-Mitgliedern zur Auswertung, die Ende 1989 in einer extra eingerichteten Kontaktstelle eingelaufen und im Archiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung archiviert sind. Darüber hinaus stützt sich Pannen auf Interviews. Geführt hat sie sie mit zehn Zeitzeugen, die repräsentativ für 2300 SED-Mitglieder im Stahlwerk in Brandenburg an der Havel stehen sollen, einem roten Musterbetrieb in der DDR. Kritisch anmerken lässt sich hier, dass die Auswahl empirisch-methodisch recht dünn ist. Das Stahlwerk in Brandenburg ist zudem kein repräsentatives Untersuchungsobjekt, was auch der Autorin bewusst ist. Der männliche Stahlarbeiter war der SED besonders wichtig. Es war ein Vorzeigeproletarier, ein Vorbild – und kam entsprechend auch in den Genuss von Privilegien, Sonderleis- tungen und höheren Löhnen. In Anbetracht der harten Arbeit im Stahlwerk war dies sicherlich nicht unverdient. Dass die Autorin den O-Ton der Interviewten im breitesten brandenburgischen Dialekt wiedergibt, ist dabei eine stilistische Frage. Sie wollte offenbar mehr Authentizität erreichen. Ob ihr das gelungen ist, sollten die Leser selbst entscheiden. Die Meinungen gehen hier auseinander. Auf den Inhalt der Arbeit hat das allerdings keinerlei Auswirkungen. Ohnehin steht das Stahlwerk nicht im Zentrum der Untersuchung, sondern wird nur an manchen Stellen zur Untermauerung hinzugezogen. Wer eine Ge- schichte des Stahlwerkes lesen möchte, greife zu den Memoiren von Hans-Joachim Lauck (Edel sei der Stahl, stolz der Mensch – Erinnerungen eines Kombinatsdirektors und Ministers, Berlin 2017)
Was Pannen beschreibt, ist der Unmut der Basis über die Parteiführung und die sich daraus ergebenden Probleme im Alltag: Das Informationsprivileg von Parteimitgliedern über politische Entscheidungen nahm in dem Maße ab, wie Probleme zunehmend vertuscht wurden und Nichtmitglieder dankt Westmedien teils früher informiert waren. Kader mussten zunehmend Missstände schönreden, statt Erfolge glaubhaft vermitteln zu können. Als Nichtbesitzer von Devisen waren sie z.B. auch in Bezug auf die Intershop-Läden im Gegensatz zu DDR-Bürgern mit Westkontakten unterprivilegiert. Für die Reiseerleichterungen in den 80-ern gilt Ähnliches, denn für Kader waren Westreisen oftmals schwieriger zu verwirklichen. Der Milliardenkredit von Strauß, das SED-SPD- Papier, das „Sputnik“-Verbot und die zurückhaltende Politik der SED-Führung gegenüber Gorbatschows Reformen brachten zudem so manches Mitglied zum Zweifeln und in Erklärungsnöte. Aufgrund dieser und ähnlicher moralischer bzw. ökonomischer Probleme ging die Rolle und Funktion der Kader verloren. Für die anderen Mitglieder sah die Lage ähnlich aus.
Pannens Ansatz, diesen schrittweisen Verfall und Legitimationsverlust quellenbasiert aus der Sicht „von unten“ nachzuzeichnen verdient eine interessierte Leserschaft.