Bericht zur Konferenz am 5. September 2019 im Verein „Helle Panke“, Berlin
Der Bericht erschien zuerst in Heft 120 der „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“. Das Heft kann hier bestellt werden.
Der 80. Jahrestag des Überfalls von Nazideutschland auf Polen – und damit der Beginn des Zweiten Weltkrieges – jährte sich am 1. September 2019 zum 80. Mal. In der gegenwärtigen deutschen Erinnerungspolitik steht dieser Jahrestag im Schatten des 1989-er Jubiläums. Umso wichtiger war es, dass der Berliner Verein „Helle Panke“ sich des Themas im Rahmen einer kleinen Konferenz angenommen hat. Die Schwerpunkte lagen thematisch bei der großen Diplomatie in der Zeit zwischen Versailles 1919 und Gleiwitz 1939 sowie der heutigen Gedenkkultur in internationaler Perspektive. Insbesondere die Opferrolle Polens in damaliger Realität und heutiger Selbstwahrnehmung stand im Fokus.
Martin Seckendorf (Berlin) widmete sich in seinem Eröffnungsreferat der Vorgeschichte, denn „für viele jüngere Leute ist der 2. Weltkrieg schon sehr weit weg“. Der Zwang zur Anerkennung Polens im Versailler Vertrag habe bereits die deutsche Rechte gestärkt. Nach 1933 betrieb die NSDAP dann eine heuchlerische Diplomatie in Bezug auf den östlichen Nachbarn: 1934 wurde eine gemeinsame Erklärung zur Friedensabsicht zwischen beiden Regierungen abgeschlossen, die deutsche Hetze gegen Polen wurde hiernach eingestellt. Durch diese Bündnispolitik wollte man einerseits Frankreichs Bündnispolitik untergraben, andererseits aber auch den Rücken frei haben für Expansionsgelüste in andere Nachbarstaaten. Warschau teilte die antibolschewistische Weltsicht Berlins, während die Nazis die polnische Regierung nur als Vasall auffassten. Ein Jahr vor Kriegsbeginn beendete Berlin dann auch die Kooperation und setzte intern bereits auf die Blitzkrieg-Strategie gen Osten. Im Frühjahr 1939 sei schließlich die Grundsatzentscheidung zum Überfall getroffen worden. Mögliche Reaktionen anderer Regierungen auf einen solchen Angriff wurden abgeschätzt, Aufmarschpläne und die Okkupationspolitik bereits konzipiert. Als Statthalter wurden die SS und deutsch-polnische Verbände eingeplant.
Doch nicht nur die polnische Regierung betrieb eine (im Nachhinein ist man natürlich schlauer) fahrlässige Diplomatie gegenüber Deutschland, auch im Westen schätzte man die Lage falsch ein. Bekanntestes Beispiel hierfür ist wohl die britische Appeasement-Politik, der sich Reiner Zilkenat (Hoppegarten) in seinem Vortrag widmete. Als deren Grundlage habe der Antibolschewismus fungiert. Salopp gesagt: In Hitler sah man gegenüber Stalin das kleinere Übel, und deutsche Aggressionen gen Osten waren weiten Teilen der britischen Politik lieber als welche in Richtung Westen. Ganz abgesehen davon, dass es auch namhafte britische PolitikerInnen gab, die mehr oder weniger offen mit Hitler sympathisierten. Die Appeasement-Politik zeigte sich praktisch in Konzessionsangeboten Berlin gegenüber und blieb distanziert hinsichtlich sowjetischen Angebote zur Zusammenarbeit. Erst 1939 wurde London das Scheitern dieser Politik klar – da war es aber schon zu spät.
Doch nicht nur die britische Regierung hatte sich verrannt, sondern die gesamte Bündnispolitik kam Hitler entgegen oder wurde von seiner Administration taktisch ausgenutzt. Der Westen schaute schon weit vor Kriegsausbruch nur wie das Kaninchen auf die Schlange der deutschen Expansionspolitik zu. Auch Frankreich und Polen waren zu weitreichenden Konzessionen bereit, um nicht selbst angegriffen zu werden. Die Sowjetunion war als Bündnispartner nicht erwünscht. Stalin, der selbst auch keinen Krieg wollte, ließ sich aus taktischen Gründen mit Berlin ein und unterzeichnete den berüchtigten Nichtangriffspakt mit dem noch viel berüchtigteren Zusatzprotokoll über die Aufteilung Polens. Viele (deutsche) Kommunisten fühlten sich dadurch „nicht zur Unrecht verraten“, wie Stefan Bollinger (Berlin) in seinem Vortrag über die Fehler in der Bündnispolitik betonte. Stalin schlug damit jedoch zwei Fliegen mit einer Klappe: Auch die Aggressionen Japans an der möglichen zweiten Front hörten damit auf.
Von zwei Fronten war nach dem Geheimprotokoll des Nichtangriffspaktes unmittelbar Polen bedroht – ohne dies sofort zu ahnen. Denn das Zusatzprotokoll war wirklich top secret, wie Daniela Fuchs (Berlin) zu Beginn ihres Referats über die polnische Politik damals und heute betonte. Selbst nach Kriegsende, in den Nürnberger Prozessen, habe es noch als Fälschung gegolten. Erst vor 30 Jahren wurde es unter Gorbatschow erstmals erwähnt und dann 1992 von Dimitri Wolkogonow der Öffentlichkeit präsentiert. Das Zusatzprotokoll erleichterte den Weg zum Überfall, der von deutscher Seite aus von Beginn an als Vernichtungskrieg konzipiert war. Am 17.9.39 erfolgte der Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen, im Sommer 1940 dann jener ins Baltikum, der ebenfalls im Zusatzprotokoll vereinbart worden war. In der polnischen Erinnerungspolitik unter Jarosław Kaczyński spielt das Prokoll heute eine wichtige Rolle. Aggressoren gegen Polen werden im Ausland verortet, obskure polnische Patrioten glorifiziert, neue Feindbildkonstruktionen ohne Quellen und Fakten konstruiert. Antirussische Verschwörungen finden sich allerorten, Denkmale an polnisch-sowjetische Waffenbrüderschaft werden geschleift etc.
Kaczyńskis durchsichtige Machtpolitik mittels Feindbildkonstruktion gegen Russland und die EU funktioniert aber an der Wahlurne. Historisch kann er sich dabei in Bezug auf Russland auf Katyn stützen, wo Stalin 4.000 polnische Offiziere ermorden ließ (insgesamt wurden ca. 25.000 umgebracht). In Bezug auf Deutschland war Polen ebenfalls Opfer, wie Felix Matheis (Hamburg) in seinem abschließenden Beitrag über die Besatzungspolitik im Generalgouvernement darstellte. Dort, im schlesischen Raum, zeigten sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Besatzer: Während Hitler das Gebiet rücksichtslos ausplündern und zur Mondlandschaft machen wollte, plädierte der dortige NS-Statthalter, Generalgouverneur Hans Frank, für eine wirtschaftliche Nutzung des Gebietes im Sinne der Rüstungsproduktion. Unter seiner Führung siedelten sich Einsatzfirmen aus dem norddeutschen Raum an, denen durch die Seeblockade die Handelswege über das Meer versperrt waren. Diese Firmen machten hohe Gewinne, denn Ressourcen und Arbeitskräfte waren zur rücksichtslosen Ausbeutung freigegeben. Der Referent wies abschließend noch auf einen „moralischen Skandal“ hin: Die 1944/45 zu Recht rausgeworfenen Handelskaufleute wurden später in der Bundesrepublik zu Vertriebenen erklärt und dafür entschädigt. Zur Entschädigung polnischer Zwangsarbeiter braucht man an dieser Stelle sicherlich nichts mehr zu erzählen.