Konferenzbericht „Die zweite Revolution? Das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa“

Bericht zur Konferenz am 9. März 2019 im Rathaus Berlin-Lichtenberg

Der Bericht erschien zuerst und in gekürzter Form in Heft 118 der „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“. Das Heft kann hier bestellt werden.

Lange Jahre hielt sich in der Bundesrepublik die Erzählung von der raschen und unblutigen Gründung der Weimarer Republik nach der Novemberrevolution. Als Gründungsmoment wurde die Konstituierung und freie Wahl der Nationalversammlung gesehen. In den vergangenen Jahren erschienen zahlreiche Forschungsarbeiten, die an diesem Gründungsmythos rüttelten, am wirkmächtigsten sicherlich Mark Jones‘ Buch „Am Anfang war Gewalt: Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik“ (2017). Im Zuge der Neubetrachtung der damaligen Ereignisse wurde andererseits auch so mancher kommunistische Mythos dekonstruiert, z.b. in Bezug auf die Gewichtung und den Verlauf des Spartakusaufstandes. An Bedeutung gewonnen haben in der historischen Debatte hingegen die Räte sowie Diskussionen über die Rolle der Frauen in der Novemberrevolution bzw. der Arbeiterbewegung. Vor allem wurde aber herausgearbeitet, dass die Revolution mit der Gründung des Parlaments keineswegs vorbei war, sondern es danach weiterging, gar eine „Zweite Revolution“ gab, wie Axel Weipert in seiner Dissertation feststellte.
Der monatelange Verlauf und die zunehmende Rolle der Gewalt nach der ersten Revolution im Herbst 1918 waren keine deutschen Singularitäten. Das belegte die Konferenz am 9. März 2019 im Rathaus Berlin-Lichtenberg, die den programmatischen Titel „Die zweite Revolution? Das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa“ trug und in Kooperation vom Museum Lichtenberg und dem Verein „Helle Panke“ ausgerichtet wurde.
Nach kurzen Begrüßungsworten der Veranstalter übernahm Dietmar Lange den Part der Einführung. Der eigentlich geplante Vortrag Stefan Bollingers zum Thema „Von den Schwierigkeiten der zweiten Revolutionen“ fiel leider der Grippe zum Opfer. Dietmar Lange betonte den Genius loci: Lichtenberg war vor 100 Jahren ein revolutionär Brennpunkt. Im damaligen Arbeiterbezirk wütete der konterrevolutionäre Terror, hier ermordeten rechte Freikorps hunderte (vermeintliche) Kommunisten und zahlreiche Zivilisten. Die Konferenz fand entsprechend im Rahmenprogramm der Ausstellung im Rathaus mit dem Titel „Schießbefehl für Lichtenberg“ statt (ein Katalog ist über das Museum gegen eine geringe Schutzgebühr zu beziehen).
Im zweiten Einführungsvortrag warf Marcel Bois den Blick auf „Revolutionen und Konterrevolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs in globaler Perspektive“. Der Krieg zermürbte nicht nur die betroffene Bevölkerung und die Soldaten, sondern beendete auch die Herrschaft von vier Dynastien: Die Hohenzollern, die Habsburger, der Zarismus in Russland sowie das Osmanische Reich endeten. In den letzten Kriegsjahren erfassten Demokratisierungswellen in unterschiedlichen Ausprägungen große Teile der Welt: Hungerunruhen, Antikriegsbewegungen, nationale Unabhängigkeitskämpfe, Streiks für höhere Löhne und den Achtstundentag fanden international statt. Die Revolutionen in Russland gaben dem Ganzen einen weiteren Schub. Sowjetrussland wurde zum Projektionsbild emanzipatorischer Kämpfe, zur konkreten Utopie. Nach Kriegsende gewannen linke Kräfte vielerorts die Oberhand, rasch sammelte sich aber die Konterevolution, um mit Gewalt die alte Ordnung wiederherzustellen. Mit ihr entstanden bzw. erstarkten Antikommunismus, Antibolschewismus und – oft damit einhergehend – rassistischer Antisemitismus. Mit seinem einführenden Überblick gelang Bois eine thematische Öffnung für viele der folgenden Vorträge.
Im ersten, von Anke Geißler moderierten, Panel ging es um „Chancen und Risiken des deutschen Frühlings 1919“. Hierzu waren vier ReferentInnen eingeladen. Zum Auftakt stellte Gisela Notz „Politische Positionen und Kämpfe linker Frauenpolitik“ vor. Hier gab es mehrere Spannungsfelder: Die Distanziertheit zwischen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen (die oftmals nicht für die proletarischen Frauen mitstritten), die Kluft zwischen fortschrittlicher Stadt und reaktionären und meist klerikal bestimmten Rollenbildern auf dem Lande sowie die Männerdominanz auch in den Gremien, Organisationen und Räten der Arbeiterbewegung. Wie Notz betonte, wirkten hier durchaus Frauen mit, wenn auch nur wenige. An ihre politische Arbeit erinnert die Referentin schon seit vielen Jahren in Vorträgen und Publikationen. Auch im Rahmen der Konferenz stellte sie solche „Wegbereiterinnen“ vor. Daran anknüpfend referierte Mirjam Sachse über „Das Frauenleitbild der ‚Staatsbürgerin‘ zwischen demokratischem Aufbruch und antirevolutionärer Sackgasse“. Anhand der Zeitung „Die Gleichheit“ stellte sie Clara Zetkins Ideal der Klassenkämpferin, verkörpert im „weiblichen Vollmensch“ vor. Zetkin weigerte sich, mit der bürgerlichen Frauenbewegung zusammenzuarbeiten. Pejorativ äußerte sich sich über den Begriff der „Frauenrechtlerinnen“. Zetkin kritisierte deren auf Partikularinteressen wie das Wahlrecht für Frauen der Oberschicht ausgerichtetes Streben und setzte sich stattdessen für eine revolutionäre Umgestaltung der patriarchalischen kapitalistischen Ordnung ein. Viele der in der „Gleichheit“ formulierten Forderungen sind im Übrigen bis heute nicht umgesetzt, wie z.B. aktuell die beschämende und von Männern dominierte Debatte über körperliche Selbstbestimmung und den §219a (das „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche) zeigt. Sachse betonte abschließend diese Aktualität und die Notwendigkeit feministischer Kämpfe auch heute.
Rein historisch waren hingegen die beiden Vorträge über exemplarische deutsche Regionen: Klaus Wisotzky berichtete über „Streikbewegungen im Ruhrgebiet 1919“. Er zeigte auf, dass viele Streiks lokal und auf einzelne Zechen begrenzt waren, dass die Streikenden häufig gegen den Willen der Gewerkschaftsspitzen in den Ausstand traten und dass auch die Arbeiterparteien uneins waren. Exemplarisch beschrieb er das anhand der Ereignisse in Essen: Der Arbeiter- und Soldatenrat proklamierte das „Zauberwort“ der „Sozialisierung“, ohne diese definiert zu haben. Der diffuse Begriff sorgte für unterschiedliche Vorstellungen, was darunter zu verstehen sei – von Verstaatlichung bis hin zur Arbeiterselbstverwaltung. Den damaligen Generalstreik betrachtete Wisotzky nüchtern als Scheitern der Linksradikalen, die es nicht vermochten, die Mehrheit der Arbeiter hinter sich gegen die Regierung Ebert/Scheidemann zu versammeln. Der wochenlange Generalstreik endete im April 1919 ohne Unterstützung der Gewerkschaftsführung. In der Folge verloren diese und die MSPD bei den Arbeitern an Ansehen, radikalere Kräfte wie die USPD legten hingegen zu. „Streikbewegungen in Mitteldeutschland 1919“ thematisierte anschließend Mario Hesselbarth aus Jena. Wo die MSPD stark war, blieben die Arbeiter zurückhaltend, und wo die USPD das Sagen hatte, gab es härtere Arbeitskämpfe, so seine Feststellung. Auch hier stand am Ende des Streiks eher eine politische Radikalisierung der Arbeiterbewegung nach links.
Nachdem die anschließende Mittagspause für angeregte Diskussionen genutzt wurde, ging es mit dem Panel „Momente der Weltrevolution?“ weiter. Hier wurde der Blick auf die Ereignisse in Ungarn, Italien, Großbritannien und Bayern geworfen – das aus Berliner Sicht ja irgendwie auch so etwas wie Ausland ist. Sebastian Zehetmair, der über „die revolutionären Ereignisse in München und Bayern“ referierte, betonte auch den antipreußisch-emanzipatorischen Moment, den der Pazifist Kurt Eisner als erster Ministerpräsident bei seinem separatistischen Streben im Hinterkopf hatte. Berlin verkörperte außerhalb Preußens Militarismus und Zentralismus. Damit zu brechen war eine der Intentionen der Münchener Räterepublik. Für Bayern machte der Referent gleich drei revolutionäre Phasen aus: Die erste ging bis zur Ermordung Eisners Anfang Februar und war eng mit diesem verbunden. Für Eisner schlossen sich Räte und Parlament nicht aus. Vielmehr wollte er beides miteinander kombinieren, die Räte als Gewaltenkontrolle dauerhaft installieren. Die erste freie Wahl nach der Revolution brachte für den eingesetzten Ministerpräsidenten ein Debakel, die Konservativen siegten deutlich, Eisners USPD bekam nur etwas mehr als 2 Prozent der Stimmen. Das vorwiegend ländlich-klerikal-konservative Bayern konnte Eisner nicht hinter sich bringen. Auf dem Weg zum Rücktritt wurde er ermordet. Sein Tod sorgte erst für Massendemonstrationen und eine starke Abwehrreaktion gegen die Reaktion. Das Machtvakuum besetzte schließlich im April die Räterepublik, die weitestgehend auf München und Südbayern beschränkt blieb. Sie war basisdemokratisch organisiert und durch einen hohen Mobilisierungsgrad der Räte gekennzeichnet. Nach drei Wochen wurde sie am 1. Mai von Freikorps blutig niedergeschlagen. Es entstand 1920 die „Ordnungszelle Bayern“, ein Rückzugsort für Kaisertreue, Kapp-Putsch-Teilnehmer und neue Nazis.
Zehetmair berichtete, dass sich die Münchener Räterepublik am Vorbild Ungarns orientierte. Belá Bodó von der Universität Bonn sprach hierzu über „Die ungarische Räterepublik und ihre antisemitische Verleumdung“. Die nach dem Aufstand im Oktober 1918 eingerichtete Republik war schwach und geriet Anfang des folgenden Jahres unter starken Druck von den politischen Flügeln. Eine geeinigte Linke unter Führung der Kommunisten und selbst vom Bürgertum geduldet übernahm die Führung. Ungarn war nach dem Ende der K.u.K.-Monarchie nicht nur innenpolitisch schwach, sondern außenpolitisch in einer existenziellen militärischen Notlage. Die Räteregierung vermochte es zunächst, das Land zu verteidigen. Als im Sommer 1919 ein Teilrückzug nötig wurde, geriet Bela Kuns Regierung unter Druck und verlor den Rückhalt des Bürgertums. Sein militärisches Ende war zugleich sein politisches. Hinzu kamen unpopuläre Maßnahmen wie ein Alkoholverbot (das nicht nur die Weinbauern traf) oder militärische Mittel gegen aufständische Bauern im Inneren. Ende Juli fielen Horthys Faschisten in Budapest ein, töteten 3000 Menschen und zerschlugen die Räterepublik. In der Folge erstarkten ein antibolschewistischer und rassistischer Antisemitismus, verbunden mit einem Nationalgefühl, dass innere Schließung durch die Imaginierung äußerer (jüdischer) Bedrohungen betrieb. Diese antisemitische Opfererzählung hat in Ungarn bis heute überlebt.
Simon Webb berichtete über „Streikbewegungen 1919 in Großbritannien“. Die Regierung zog nach dem Ende des Weltkrieges gleich in den nächsten Krieg, nun gegen Sowjetrussland. Das sorgte für Unmut unter Soldaten. Auch die Polizei war unzufrieden. In Liverpool streikte sie im Sommer 1919, was zu Riots und Plünderungen führte, die die Regierung durch das Militär niederzuschlagen versuchte. Erst ein starker Regen beendete die Unruhen. Webb berichtete über Streiks in Glasgow und Dublin, über einen großen Eisenbahnerstreik, der die Energieversorgung existenziell bedrohte und über das Lavieren der Regierung. 1924 kam dann erstmals Labour an die Macht.
Auch in Südeuropa rumorte es vielerorts, wie Pietro di Paola in seinem Vortrag „Streikbewegungen in Italien 1919“ belegte. Die Jahre 19/20 gelten als Ausgangsbasis des kurz darauf entstehenden und erfolgreichen Faschismus. Zunächst war jedoch die Linke stark. Unerfüllte Wahlversprechen sorgten für Unmut. Politisch radikalisierte Kriegsrückkehrer trugen revolutionäres Gedankengut ins Land. Es kam zu Streiks und Fabrikbesetzungen, häufig nicht koordiniert oder zentral geführt. Anfang 1919 gab es in Italien einen „revolutionären Rausch“ mit Hunderttausenden auf den Straßen. Auch die Presse war auf Seiten der Linken, deren Hegemonie für kurze Zeit hergestellt. Letztlich konnte sie den Moment aber nicht nutzen.
Das Abschlusspodium zum Thema „Revolutionärer Aufbruch und blutige Konterrevolution“ war prominent und kompetent besetzt. Axel Weipert machte mit einem Vortrag über „Rätebewegung und Generalstreik in Berlin 1919“ den Anfang und verdeutlichte zunächst die Bedeutung der Hauptstadt 1918/19. Neben den politischen Institutionen verfügte Berlin über wichtige Presseorgane und eine starke Arbeiterbewegung. Nach dem Mord an Eisner reagierte diese mit einem Generalstreik, an welchem sich eine Million ArbeiterInnen beteiligten. Der Antrieb hierzu kam von der Basis. Gleiches gilt für die Räte, die in der „zweiten Revolution“ eine wichtige Rolle spielten und zentrale politische Forderungen aufstellten. Sie hatten damals großes Gewicht, es sei aber aufgrund des Basisansatzes schwierig gewesen, das Rätesystem längerfristig überregional zu koordinieren, was zum Scheitern mit beitrug. Ein weiterer Grund war die „Gewalteskalation von Herbst 1918 bis Frühjahr 1919“, welche Mark Jones umriss. Er sah in der Gewalt von Rechts, die Ebert und vor allem Noske mit zu verantworten hatten, eine Ursache für das, was 20 Jahre später geschehen sollte. Noskes Schießbefehl gegen die Arbeiter sei der „Schießbefehl der Weimarer Republik“ gewesen. Fast alle Staaten würden auf Gewalt gegründet, was auf die Weimarer Republik in besonderem Maße zutreffe. Und weil „alle Geschichte irgendwie Lokalgeschichte ist“, so Jones, beschrieb er anhand konkreter Morde die damalige „Bürgerkriegsmentalität“ in Berlin. Die Arbeiter im Ostteil der Stadt wurden als „Bestien“ bezeichnet und somit entmenschlicht. Noskes Schießbefehl legitimierte willkürliche Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung. Gewalt wurde somit als Mittel zur Konsolidierung von Staat und Ordnung eingesetzt.
Daran anknüpfend referierte als letzter Vortragender des Tages Klaus Gietinger. Er knüpfte an sein gerade erschienenes Buch an und referierte zur „Volksmarinedivision in den militärischen Kämpfen in Berlin“. Die Volksmarinedivision (VMD) bewachte 1918/19 fast alle wichtigen öffentlichen Gebäude und Banken der Hauptstadt. Der mitregierenden MSPD-Führung waren Teile der VMD allerdings zu linksradikal. Sie wollten sie loswerden. Bei den Weihnachtskämpfen ließ Ebert die im Schloss verschanzten Matrosen beschießen. Die USPD verließ daraufhin die Regierung, die Bevölkerung demonstrierte für die Matrosen, die weitestgehend loyal zur Regierung standen. Erst als in den Märzkämpfen einer ihrer Kommandanten von Rechten erschossen wurde, schlossen sie sich den Aufständischen an. Gegen diese setzte die Regierung erstmalig Bomber und Artillerie in der Stadt ein. Der dann von Noske und Waldemar Pabst verhängte „Mordbefehl“ gegen politische Gegner zog willkürliche Erschießungen mit über tausend Opfern nach sich. Noske löste die VMD per Befehl auf. Teile von ihnen wurden in eine Falle gelockt und hingerichtet.
Jones und Gietinger schilderten die konterrevolutionäre Gewalt sehr bildhaft. Die Frage der Schuld, die Differenzen zwischen MSPD-Führung und Parteibasis, die sich teilweise lautstark gegen Noske wendete, das spätere Scheitern der USPD, die Ereignisse in Sowjetrussland, die Gründung der Komintern u.v.m. spielten bei der Betrachtung des Konferenzthemas ebenfalls eine wichtige Rolle. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass die damalige Situation komplizierter und ergebnisoffener war, als dominierende Geschichtsbilder lange vermittelten.