Mit linken ökologischen Ideen gegen Realsozialismus und Kapitalismus – Bahro, Harich, Havemann

Autoreferat zum Vortrag vom 15. September 2016 im Bundesarchiv Berlin.

abgedruckt in: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft 51.

Im Vortrag wurden die Ergebnisse meiner Ende 2014 bei Schöningh erschienenen Dissertation zum Thema „Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR“ vorgestellt. Die Arbeit wurde am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg von Prof. em. Richard Saage als Doktorvater betreut. Entsprechend ist der wissenschaftlich-methodische Ansatz ideengeschichtlicher Natur. Das Erkenntnisinteresse lag vorrangig in der utopiegeschichtlichen Einordnung von drei Werken, die als Buch erschienen und leicht antiquarisch zu beschaffen sind. Das heißt jedoch nicht, dass ich keine Archive besucht hätte, im Gegenteil: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) war sehr entgegenkommend und stellte mir viel Archivmaterial zur Verfügung. Zudem habe ich das Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft mehrfach zu Forschungszwecken aufgesucht.
   Die linken DDR-Oppositionellen Rudolf Bahro, Wolfgang Harich und Robert Havemann (sowie viele andere auch) waren bzw. sind aufgrund ihres inneren Widerspruchs interessant: Als selbstdefinierte Marxisten bekämpften sie andere selbstdefinierte Marxisten, um den Marxismus zu retten. Als mir zugetragen wurde, dass sie auch ökologische Utopien verfasst hatten, die bis dato noch niemand umfassend utopiegeschichtlich ausgewertet und eingeordnet hatte, ergab sich mein Dissertations-thema.
   Zur Vorbereitung versuchte ich, mehr über die Geschichte der DDR und ihre Opposition zu erfahren. An der Universität wird das Thema kaum gelehrt. Weitere Themengebiete waren die Utopiegeschichte und die der deutschen Linken nach 1945. Zudem musste ich die Umweltde-batten in Ost und West der 70er Jahre nachlesen und möglichst viel über Leben und Werk von Bahro, Harich und Havemann in Erfahrung bringen. Zu Bahro gibt es eine umfassende politische Biografie von Herzberg/Seifert. Zu den beiden anderen stehen solche Werke noch aus.
   Das Buch wird mit einer Utopiedefinition und einem Einblick in die Utopiegeschichte eingeleitet, gefolgt von einem Abriss der DDR-Geschichte, der die ökonomischen Entwicklungen und Zwänge aufgreift. Anschließend wird der „Club of Rome“ vorgestellt und dessen negative Rezeption durch die SED analysiert.
Positiv bezogen sich auf den Club of Rome hingegen Bahro, Harich und Havemann. Sie lehnten den Sozialismus nicht ab, hatten aber andere Vorstellungen davon als die SED-Führung und plädierten für einen ökologischen Umbau des Sozialismus hin zum Ökokommunismus.
   Die drei SED-Kritiker, die alles andere als Freunde waren, haben bewusst Utopien formuliert, um dem erstarrten Status Quo des real existierenden Sozialismus neue theoretische Impulse zu geben. Denn die DDR war in ihren letzten Jahren bestenfalls zur Ideologie geronnene Utopie, um Ernst Blochs Gedanken aufzugreifen. Gegen die Erstarrung bedarf es neuer Utopien, die das Reale analysieren, kritisieren und extrapolieren. Die SED stand im Erbe des Leninismus und des Marxismus. Beide verhängten sich ein utopisches „Bilderverbot“: Ausgemalte kommunistische Zukunftsbilder, die über Technikphantasien hinausgingen, waren unerwünscht. Ein Grund dürfte auch gewesen sein, dass man sich selbst ja bereits im Sozialismus oder zumindest auf bestem Wege dorthin sah. Damit wurde einerseits die Überflüssigkeit der Utopie suggeriert, andererseits wäre eine jede Utopie einer vollendeten kommunistischen Gesellschaft auch immer ein Vergleichsentwurf zur realsozialistischen Gegenwart und somit oftmals kontraproduktiv. Möglicherweise wollte man der Bevölkerung auch keine Versprechungen machen, die nicht zu halten waren.
   Nur wenige Marxisten setzten sich über dieses Bilderverbot hinweg, so z.B. Bahro, Harich und Havemann. Allerdings trieb sie nicht nur die Sorge um die Weiterentwicklung des Kommunismus an, sondern auch die damals wichtig gewordene Debatte über ökologische Fragen. Schriften wie der erste Club-of-Rome-Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ stellten um 1970 herum den Lebenswandel der modernen Zivili-sationen in Frage. Schon damals sahen Wissenschaftler die Menschheit am Scheidepunkt: Gehe sie weiterhin mit der Natur so sorglos und instrumentell um wie bisher, werde eine ökologische Katastrophe die Folge sein.
   Die drei SED-Kritiker vertraten die Meinung, dass nur der Kommunismus eine brauchbare Alternative zum immanent umweltzerstörerischen Kapitalismus des Westens sein könne – allerdings kein industriepolitisch agierender Sozialismus wie der real existierende. Sie wünschten sich ein Modell, das eine erstzunehmende Alternative zum westlichen Kapitalismus darstellten sollte. Ihnen schwebte ein anderer Sozialismus vor, nicht jedoch ein Nicht-Sozialismus. Das könnte wohl auch ein Grund dafür sein, dass die Inhalte und Forderungen der marxistischen Oppositionellen im dominierenden Teil der DDR-Aufarbeitung nach 1990 ins Hin-tertreffen gerieten. Die Drei setzten sich zwischen viele Stühle: Erstens gehörten sie innerhalb der Opposition des gesamten Ostblocks zu der kleinen Minderheit marxistischer Kritiker – das Gros forderte keinen anderen Sozialismus, sondern mehr Demokratie und Menschenrechte. Zweitens gehörten sie innerhalb des Marxismus zu der kleinen Minderheit, die sich zur Utopie bekannte, und drittens hielten die drei Autoren innerhalb der literarischen Gattungsgeschichte als ziemlich letzte an eutopischen, also widerspruchsfreien, Entwürfen fest.
   Die drei SED-Kritiker suchten vor allem die Auseinandersetzung mit der Wachstumsfrage bzw. dem Wachstumsdilemma. Viel mehr als im amerikanischen Utopiediskurs der 70er Jahre (mit Schriften wie Ernest Callenbachs „Ecotopia“ oder Ursula K. LeGuins „The Dispossessed“) spielte dies für sie die zentrale Rolle – gerade im Hinblick auf die marxistische Geschichtsphilosophie, die in ihrem Ziel, der Erreichung des materiellen Wohlstandes für alle Menschen, auf den Kopf zu stellen war.
  Die Auseinandersetzung mit den Warnungen des Club of Rome prägte die drei DDR-Autoren und machte sie zugleich zu Revisionisten, also Abweichlern vom Marxismus-Leninismus. Bahro, Harich und Havemann stellten die Prognose von Marx aus seiner „Kritik am Gothaer Programm“ in Frage, nach der im Kommunismus „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ würden. Sie revidierten sie ökologisch und entwarfen dabei unterschiedliche Utopien.
   Was macht diese inhaltlich aus? Wo liegen die Unterschiede und warum sind sie so besonders? Harichs „Kommunismus ohne Wachstum?“ (1975) enthält sechs Interviews und einen Briefwechsel zwischen ihm und Freimut Duve. Darin plädierte der Philosoph für eine Abkehr vom Wachstumskurs. Die einzige Möglichkeit, die drängenden Menschheitsprobleme zu lösen, war seiner Meinung nach eine globale Ökodiktatur nach dem Muster des Realsozialismus – jedoch ohne dessen Bestrebungen nach einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Luxusgütern.
   Um die Ziele des Club of Rome zu erreichen, seien der Sturz der Bourgeoisie und die Verwirklichung des Kommunismus die einzige Option. Harich wollte die „Diktatur des Proletariats“ – im Marxismus-Leninismus ursprünglich nur als Übergangsphase zum Kommunismus vorgesehen – nun als historischen Endzustand unter ökologischen Vorzeichen manifestieren. Das bedeutete einen Verzicht auf das Absterben des Staates in der späteren Phase des Kommunismus. Harich stand zudem an einer weiteren zentralen Stelle konträr zur Ideologie der SED, indem er auch einen direkten Übergang vom westlichen Kapitalismus zum Ökokommunismus für möglich hielt. Der SED-Sozialismus als selbsternanntes Aufbaustadium würde damit obsolet. Damit negierte der Philosoph den Fortschrittsanspruch der realsozialistischen Machthaber. Und er opferte die wohlstandsversprechende Zukunftsperspektive des Kommunismus zu Gunsten der Erhaltung von Lebensbedingungen für die Menschheit auf der Erde.
   Demokratie und marktwirtschaftliche Instrumente standen für Harich konträr zu jeglichen Bestrebungen, die ökologischen Überlebensbedingungen zu sichern. Wie ich in den BStU-Akten nachlesen konnte, zeigte sich die SED-Führung von seinen Vorschlägen wenig begeistert, wusste jedoch auch nicht, wie sie damit umgehen sollte. Denn der Philosoph benannte zwar, wie andere Oppositionelle, die Unfreiheit offen – er begrüßte sie jedoch und hielt sie aus ökologischen Gründen für notwendig. Es war Lob an falscher Stelle. Durch die Beseitigung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt sollten seiner Meinung nach Produktionsstandorte ökologisch verträglich festgelegt werden. Eine zentrale Verwaltung würde dies alles koordinieren.
   Von Harich sind weitere Texte zur ökologischen Frage erschienen. Soweit diese damals verfügbar waren – das MfS hat seine Veröffentlichun-gen und die westlichen Reaktionen darauf akribisch gesammelt – sind sie in die Dissertation mit aufgenommen worden. Jüngst sind noch weitere unveröffentlichte Texte Harichs erschienen, die bisher unter Sperrvermerk im Amsterdamer Archiv schlummerten. Im Rahmen der von Andreas Heyer herausgegebenen Reihe mit Texten aus Harichs Nachlass sind diese im Band 8 zu finden.
   Anders als der Philosoph Harich ging der Naturwissenschaftler Havemann an die ökologischen Probleme heran. In seiner Utopie „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg“ (1980) beklagte er das Wettrüsten, die globale soziale Ungleichheit mit westlicher Verschwendung einerseits und Hunger in der Dritten Welt auf der anderen Seite sowie Luxusfixiertheit und Ressourcenverschwendung, welche letztlich zu enormen Müllbergen führen. Er hielt den Realsozialismus für ungeeignet zur Problembehebung. In der Fehlentwicklung des Sozialismus nach der Oktoberrevolution sah er keine Zwangsläufigkeit für eine kommunistische Entwicklung. Darum wollte Havemann eine kommunistische Utopie des dritten Weges entwerfen, welche als „Skizze“ und Anregung dienen sollte. Er nannte sie „Die Reise in das Land unserer Hoffnungen“ – eine klare Anlehnung an Blochs „Prinzip Hoffnung“.
  In Havemanns Utopie dient die Wissenschaft dem Menschen und verschafft Glück ohne Nebenwirkungen. Die Frau ist aus den Fesseln des Patriarchats befreit, die natürlichen Ressourcen werden sinnvoll genutzt statt verschwendet (so wird z.B. fast gänzlich auf Autos verzichtet), und im Allgemeinen existiert ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Die gesamte Gesellschaft legt hohen Wert auf Wissen und Bildung. Städte, in früherer Zeit bauliche Manifestationen menschlicher Entfremdung, existieren nicht mehr und wurden durch eine dezentrale Siedlungsweise abgelöst. Generell hat der Mensch die Fesseln der Industriegesellschaft abgelegt und widmet sich nun seiner persönlichen Entfaltung. In Havemanns hedonistischem Zukunftsentwurf werden die Künste gepflegt, eine Weltsprache ermöglicht die globale Kommunikation, niemand wird zur Arbeit gezwungen und es gibt kein Geld. Ohne die alte Arbeitsweise und -teilung entfallen auch Reisen per Auto oder Flugzeug, da keine Eile mehr besteht. Die Menschen können nun entschleunigt und entspannt die Welt entdecken. Alle Energie wird durch kleine Fusions- und Wasserkraftwerke erzeugt, insgesamt wird auch wesentlich weniger verbraucht und benötigt. Havemann sah eine Entwicklung der Menschheit hin zu einem solchen Utopia nur durch eine breite Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse realisierbar. Negative Technikfolgen be-trachtete der Naturwissenschaftler als Nebenwidersprüche, die mittels Forschung und Entwicklung lösbar wären. Auch von Havemann gibt es weitere Texte zur ökologischen Frage, einige sind bisher unveröffentlicht. Zu finden sind diese im Archiv der Havemann-Gesellschaft. Dort gibt es auch ein Findbuch. Zudem erschien 2007 eine umfassende Bibliografie im Akademie-Verlag.
  Für Rudolf Bahro war die Transformation nur über eine intellektuelle Kulturrevolution machbar. Es ging ihm um eine aktive und bewusste Einflussnahme der Menschen auf den Gang der Geschichte. Bahro plädierte in seiner „Alternative (1977) für Emanzipation. Kommunismus in seinem Sinne bedeutet ein bedächtiges, geregeltes, nachhaltiges und harmonisches Wachstum und Leben. Dazu sei ein Ausgleich, ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur nötig, was wiederum erst den „Sprung ins Reich der Freiheit“ möglich machen würde. Um dieses herbeizuführen, müsse die hierarchische Struktur der Gesellschaft überwunden werden, als deren Hauptpfeiler Bahro die vertikale Arbeitsteilung – also die Ungleichwertigkeit und Hierarchisierung innerhalb von Arbeitsprozessen – ausmachte. Nicht Askese, aber eine Abkehr vom Konsumverhalten der Industriegesellschaft charakterisiert die „Alternative“. Die Grundlage seines Modells, das nicht selten an Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ erinnert, stellte eine sehr hohe Allgemeinbildung dar, fußend auf einem anderen Bildungs-system. Bahro wurde nach Erscheinen der „Alternative“ festgenommen und zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt. Nur wenige Monate später räumte ihm die SED ein, das Land zu verlassen. Die umfassenden Observations- und Maßnahmepläne hierzu sind in den BStU-Akten zu finden.
  Alle drei Autoren bezogen sich positiv auf Lenin und dessen Konzept der Diktatur des Proletariats. Dass dessen Diktatur der Mehrheit eben auch eine über die Minderheit war, nahmen sie jeweils auf ihre Weise in Kauf. Zwar waren alle drei Antistalinisten, mit westlicher Demokratie hatten sie jedoch genauso wenig im Sinn. Wären sie nicht Kritiker der SED gewesen, ihre Personen und Gedanken hätten es kaum in die wichtigsten Medien der Bundesrepublik geschafft. Wären ihre utopischen Texte zuerst in Verlagen der DDR erschienen, hätte sie wohl jenseits des Ei-sernen Vorhang fast niemand beachtet. Die SED-Führung sah jedoch vor allem in Bahro und Havemann Agenten des Westens, die Unruhe stiften und die DDR verunglimpfen sollten. Das machte die Utopien jedoch erst richtig interessant für kritische Linke und sagt zudem viel über die Funktionsmechanismen der SED aus.