Der Schauprozess gegen Wolfgang Harich und Genossen
in: neues deutschland vom 11.03.2017
»Mir ist es klar, dass der Staatssicherheit zu danken ist … Ich wäre nämlich nicht mehr aufzuhalten gewesen …, und wenn sie mich nicht festgenommen hätten, dann wäre ich heute nicht reif für die zehn Jahre, die der Herr Generalstaatsanwalt beantragt hat, sondern für den Galgen.« Diese überraschende, bis heute umstrittene Selbstbezichtigung äußerte Wolfgang Harich vor 60 Jahren im letzten großen Schauprozess der DDR, in dem er der Hauptangeklagte war. Der Philosoph rechtfertigte seine Worte nach 1990 damit, die Staatssicherheit habe alles über ihn, sein Denken und Tun gewusst. Und er habe mit versteckter Ironie kundtun wollen, dass das Verfahren vor dem Obersten Gericht gegen ihn und seine Mitstreiter einer Inszenierung folge. Die Urteile hätten bereits vor der Eröffnung des Prozesses festgestanden.
Harich sollte seine Mitstreiter belasten, unter ihnen Walter Janka. Der Angeklagte erfüllte die Anweisungen, beschuldigte ehemalige Weggefährten und gestand, was man ihm vorwarf. Offensichtlich war er von der ihm in der Untersuchungshaft angedrohten Todesstrafe beeindruckt. Janka hingegen gab vor Gericht nichts zu, wies die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft zurück. Er wird Harich später immer wieder Verrat vorwerfen. Das Tischtuch zwischen beiden war seit dem Prozess 1957 für immer zerschnitten. Denn für Janka stand fest, dass er erst durch Harichs Aussagen verurteilt werden konnte. Das ist jedoch zu bezweifeln. Es widerspricht der Logik stalinistischer Schauprozesse.
Wie ist es überhaupt zu dem Tribunal am 9. März 1957 gegen eine angeblich »konspirative staatsfeindliche Gruppe« gekommen?
Das politische Tauwetter nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 regt auch in der DDR kommunistische Intellektuelle zu Diskussionen über eine Entstalinisierung an. Sogar Parteichef Walter Ulbricht fordert – notgedrungen – in Sonntagsreden zu Meinungsstreit auf, ist aber nicht wirklich interessiert. Die Debatten werden kaum in der Öffentlichkeit geführt, sondern in internen Parteikreisen, beispielsweise in der SED-Grundorganisation des Aufbau-Verlages. Dort entwickelt ein »Kreis der Gleichgesinnten« um Cheflektor Harich und Verlagsleiter Janka kühne Reformideen.
Die Intellektuellen erkennen, dass der unbeliebte Ulbricht das eigentliche Problem für die mangelnde Akzeptanz des Sozialismus in der Bevölkerung ist. Sie befürchten, dass es auch in der DDR zu Massenunruhen kommen könnte, wie schon in Polen und Ungarn. Als Trauma wirkt der 17. Juni 1953 in der DDR nach. Harich hatte nach dem Arbeiteraufstand in der DDR offen die dogmatische Kultur- und Medienpolitik der Partei kritisiert, was ihn seine Lehrstelle an der Humboldt-Universität kostete. Die Reformer wollen den Ersten Sekretär des ZK, dessen Stuhl bereits 1953 wackelte, nun endlich ersetzen. Die Gelegenheit scheint günstig. Ulbrichts Position ist seit dem XX. Parteitag geschwächt. Seine Rückendeckung aus Moskau schwindet. Er wird zunehmend in Frage gestellt, muss Zugeständnisse machen. Einen Nachfolger haben die Reformer bereits auserkoren: Paul Merker. Der zeigt jedoch kein Interesse.
Die »Gleichgesinnten« hoffen auf Moskau. Am 25. Oktober 1956 trifft sich Harich mit dem sowjetischen Botschafter Georgi Puschkin. Der Diplomat verteidigt jedoch wider Erwarten Ulbrichts Politik und weist die Reformer brüsk zurück. Mehr noch: Er informiert Ulbricht. Der Journalist Gustav Just, der zum Reformerkreis gehört und dann auch auf der Anklagebank sitzt, schreibt später: »Aber wie sehr wir uns damals täuschten, wie sehr die Sowjetunion die Ulbrichtsche Politik unterstützte, sollten wir bald erfahren.«
Die »Gleichgesinnten« geben nicht auf. Harich nutzt seine vielfältigen Kontakte. Er hofft auf eine Wiedervereinigung Deutschlands unter sozialistischem Vorzeichen. Wenn die die DDR entstalinisiert und der für den Westen inakzeptable Ulbricht abgelöst ist und die SPD die Bundestagswahl 1957 gewinnt, wäre der Weg frei für ein solches Unterfangen, glaubt Harich. Er wendet sich am 1. November 1956 an die Westberliner SPD, die ihn an das SPD-Ostbüro verweist. Harich tappt in die Falle. Das Ostbüro gilt als DDR-feindliche Agentenorganisation. Im Prozess soll ihm dies besonders zur Last gelegt werden. Doch zuvor wird er, am 7. November, zu Ulbricht zitiert, der ihn unmissverständlich vor weiteren Schritten warnt.
Ungeachtet der Warnung treffen sich die »Gleichgesinnten« mit Merker am 21. November bei Janka in Kleinmachnow. Vor Gericht wird diese Zusammenkunft zur staatsfeindlichen Verschwörung stilisiert. Tatsächlich diskutiert man an jenem Abend politische Fragen. Just und Janka bitten Harich, seine und ihre Ideen als internes Diskussionspapier für die SED niederzuschreiben. In wenigen Tagen bringt dieser die »Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« zu Papier. Der Forderungskatalog ist umfassend, demokratisch, sozialistisch. Er stellt an keiner Stelle die SED oder den Sozialismus in Frage. So wird gefordert, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zugunsten einer freiwilligen Kooperation der Bauern aufzugeben. Weiterhin werden Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, weniger Bürokratie und Zentralismus, Auflösung mehrerer Industrieministerien, demokratische Parteien und Institutionen, eine Länderreform und Einführung echter Räte auf allen Ebenen, Abschaffung des Ministeriums für Staatssicherheit und der NVA, Aufhebung der Zensur und Religionsfreiheit gefordert. Die DDR soll attraktiver werden.
Die Staatssicherheit findet einen Durchschlag des Dokuments und setzt Ulbricht am 26. November in Kenntnis. Tags darauf fliegt Harich nach Hamburg, um sich mit Rudolf Augstein, dem Chefredakteur des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, zu beraten. Damit ist er nun endgültig zu weit gegangen. Das MfS hat genug Material gegen ihn gesammelt. Nach seiner Rückkehr wird Harich am 29. November 1956 verhaftet. Wenige Tage darauf werden auch Janka und weitere Beteiligte festgenommen.
Der am 9. März 1957 eröffnete Schauprozess ist eines der unrühmlichsten Kapitel der SED-Geschichte. Ulbricht greift im Moment der Machtkrise auf überwunden geglaubte stalinistische Instrumente zurück. Nach den Aufständen in Ungarn und Polen im Herbst 1956 will die Kremlführung auf deutschem Boden keine Experimente. Sie setzt wieder voll auf Ulbricht. Mit der Rückendeckung des »Großen Bruders« schlägt dieser seine parteiinternen Kritiker zurück. An die international bekannten unter ihnen, wie den in Leipzig lehrenden Philosophen Ernst Bloch, wagt er sich nicht heran. Die zweite Reihe der Intellektuellen scheint hingegen ideal zu sein, vor allem Harich, der als Chefredakteur der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« in deutlichen Worten Schematismus und Dogmatismus kritisiert hat. Janka, der zur Zeit der NS-Diktatur in westlicher Emigration war, ist dem Moskau-Exilanten Ulbricht per se verdächtig. Der juristische Schlag gegen Harich und Genossen soll zugleich alle potenziellen Kritiker mundtot machen.
Die »Entstalinisierung« wird in der DDR beendet, ehe sie richtig begonnen hat. Sie wird im Sinne Ulbrichts entpolitisiert. Stalin ist zwar kein »Klassiker« mehr, zentrale Elemente seines Herrschaftssystems bleiben jedoch erhalten. In der Anklage gegen Harich, Janka und die anderen heißt es entsprechend: »Bei den Erörterungen über die Unzulänglichkeiten der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands machten sich die einzelnen Gruppenmitglieder die von imperialistischen Kreisen verbreitete Terminologie des ›Stalinismus‹ zu eigen, betrachteten sich selbst als ›Antistalinisten‹ und ›Oppositionelle in der SED‹ und forderten die Beseitigung der ›Stalinisten‹ aus der Zentrale der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und aus der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik.«
Besonders perfide: Die Schriftstellerin Anna Seghers und die Schauspielerin Helene Weigel werden zum Schauprozess geladen; sie müssen mit ansehen, wie ihre Freunde verurteilt werden. Und sie schweigen. Die Ohnmacht der Intellektuellen ist unübersehbar. Sie haben den Konflikt gewagt und verloren. Ulbricht lässt sie unmissverständlich wissen, dass die kurze Tauwetter-Periode vorbei ist. Er räumt in der Folge auf, setzt Erich Mielke als Geheimdienstchef ein und entfernt seine Kritiker aus dem ZK.
Janka wird zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Andere Mitangeklagte in einem zweiten Prozess im Juli 1957 ebenfalls zu mehrjährigen Haftstrafen. Harich kommt im Zuge einer Amnestie Ende 1964, vier Jahre nach Janka, frei. Durch die Lesung aus seinen in einem westdeutschen Verlag erschienenen Memoiren »Schwierigkeiten mit der Wahrheit« im Herbst 1989 im Deutschen Theater in Berlin erlangt Janka öffentliche Bekanntheit. Auf Kosten Harichs. Der bleibt – erneut an den Pranger gestellt – ein Gebrandmarkter. Ein weiterer, nachträglicher Sieg Ulbrichts. Harichs Replik »Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit« erfuhr bei weitem nicht das gleiche Interesse wie Jankas Version der Ereignisse von 1956/57.
Von Dr. Alexander Amberger, Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung/Helle Panke, erschienen auf dem Buchmarkt u. a. »Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR«, »Auf Utopias Spuren« (hg. mit Thomas Möbius) sowie »Der Stalinismus: Totalitarismus oder Oligarchie?«.