Rezension von „Wolfgang Harich, Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft“

Rezension von: Wolfgang Harich, Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer, Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs, Band 9

Zuerst publiziert in Aufklärung und Kritik, Heft 2/2019

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„Unter den bedeutenden Philosophen dieses Jahrhunderts gab es einen Marxisten: Georg Lukács. Er war auch ein exzellenter Kenner von Kunst und Literatur. Bei ihrer Analyse, ihrer Beurteilung verband seine materialistisch-dialektische Methode, virtuos von ihm gehandhabt, sich mit dem Traditionsbewusstsein und Niveauanspruch eines wertkonservativen Bildungsbürgers. Darin lag kein Widerspruch. Bei Marx und Engels wie bei allen ihren legitimen Epigonen finden wir dasselbe.“ (476). Diese 1991 verfasste Würdigung des ungarischen Kommunisten (1886-1971) steht symptomatisch für das Bild, das ihr Verfasser Wolfgang Harich (1923-1995) von Lukács hatte und mit dem er sich diesbezüglich als Bruder im Geiste fühlte. Lukács agierte schon vor Harichs Geburt 1918/19 als Mitglied der Räteregierung in Budapest, wurde kommunistischer Parteifunktionär, war dann im Exil Insasse des berüchtigten „Hotel Lux“ im Moskau wäh- rend der stalinistischen Terrorjahre und fungierte nach seiner Rückkehr als Theoretiker bzw. kurzzeitig 1956 wieder als Politiker in Ungarn. Lukács beeinflusste mit seiner Frühschrift „Geschichte und Klassenbewusstsein“ Generationen unorthodoxer Marxisten. Es gibt aber auch den anderen, den leninistischen späteren Lukács. Bei aller Parteitreue war er dennoch nie völlig „auf Linie“. Im gesamten „Ostblock“ gab es nicht viele solche Denker. In der DDR lassen sich am ehesten in der Frühphase intellektuell Ebenbürtige finden: der Hoffnungsphilosoph Ernst Bloch, der Literaturprofessor Hans Mayer oder der junge Star am Philosophiehimmel, Wolfgang Harich. Dessen Nachlass aus dem Amsterdamer Sozialarchiv ediert seit einigen Jahren in mühseliger und fruchtbarer Weise der Politikwissenschaftler Andreas Heyer. Seit 2013 erscheinen Harichs „Schriften aus dem Nachlass“. Die Edition ist noch nicht abgeschlossen (aktuell ist von 16 Bänden die Rede), bisher publiziert sind 10 Bände, verteilt auf 13 Bücher. Im neunten Band hat Heyer Harichs Texte zu Lukács zusammengetragen. Es handelt sich um Presse- und Zeitschriftenartikel, autobiografische Schriften, Gutachten und Briefe. Wie Lukács war auch Harich ein Kommunist und Intellektueller, der den realen Sozialismus begrüßte und verteidigte, zugleich aber mit der ideologischen Verengung der parteimarxistischen Ideologie Zeit seines Lebens Probleme hatte. Heyer beschreibt das Paradoxon, in dem sich systemtreue Querdenker im Realsozialismus befanden, treffend in seiner Einleitung: „Ohne Unterwerfung keine eigene Meinung – ohne Opportunismus keine Opposition.“ (20)
Kurz gesagt war Harich bis zu seiner Verhaftung 1956 ein Kritiker von Ulbrichts Politik. Er forderte einen demokratischeren und für westliche Arbeiter attraktiveren Sozialismus in der DDR, um diese für eine rasche deutsche Wiedervereinigung unter demokratisch-sozialistischer Ägide vorzubereiten. In späteren Jahren hingegen war ihm die SED in ideologischen Fragen nicht mehr orthodox genug und in Bezug auf drängende ökologische Probleme wiederum zu uneinsichtig. Aber das ist Thema des Ökologie-Bandes der Nachlassreihe (Bd. 8). An dieser Stelle geht es um die Schriften zu Lukács. Gemeinsam mit Bloch stritten sie als Trio vornehmlich in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ für eine positive Bewertung des Deutschen Idealismus und der Aufklärungsphilosophie. Sie wollten insbesondere Hegel, aber auch Schel- ling, Goethe oder Herder als Vorläufer des Marxismus verorten und in dessen Erbeverständnis integrieren. Das widersprach Anfang der fünfziger Jahre der stalinistischen Interpretation von Hegel als preußischem Vorläufer des Faschismus. Als (unfreiwilligen) Vorlagengeber für faschistisches Denken definierten hingegen Lukács und Harich den Philosophen Friedrich Nietzsche. Dies geschah dann wiederum gegen die SED-Führung, die aus Devisen- und Diplomatiegründen in ihren letzten Jahren eine Lockerung des Umgangs mit Nietzsche in der DDR versuchte. Harich blieb in Bezug auf Hegel und Nietzsche in den 40 Jahren der DDR seinem Standpunkt treu, während die SED den ihrigen wechselte. So entstanden ideo- logisch paradoxe Konstellationen, die in Bezug auf Harich noch heute für Kontroversen sorgen und sich im Buch wiederfinden.
Entsprechend ist die Aufteilung: Auf Heyers hundertseitige Einleitung folgen 81 Dokumente aus der Zeit von 1949 bis zu Harichs Verhaftung 1956. Fast alle Dokumente werden erstmals veröffentlicht. Der Herausgeber hat Telegramme und Korrekturnotizen ausgespart, auch die Antwortbriefe von Lukács werden nur kurz zusammengefasst. Stattdessen finden sich zahlreiche Briefe an ihn sowie wohlwollende Gutachten über seine Bücher, um deren Druck in der DDR zu realisieren. Harich fungierte als Lukács’ Lektor im Aufbau Verlag und war mit der Herausgabe von dessen Schriften betraut. Die Dokumente zeigen das große Engagement Harichs für seinen Mentor. Ernst Bloch meinte damals: „Ulbricht wird aus Moskau ferngelenkt, Harich aus Budapest.“ (47) Dahinter lässt sich allerdings auch eine Portion Eitelkeit im Wettstreit um die größere Werksausgabe in der DDR vermuten. Erhalten hat sie letztlich keiner der Beiden. Jene von Bloch erschien erst nach dem Mauerbau im Westen, wenngleich die Vorarbeiten dazu von Harich in den 50er Jahren in Blochs DDR-Zeit geleistet wur- den. Auch von Lukács gibt es keine abge- schlossene Gesamtausgabe aus der DDR. Allerdings sind einige Bücher erschienen, auf Betreiben Harichs in Form und Farbe der „Klassiker“ des Marxismus: in blauer Lederoptik. Eine kleine Randnotiz: Andreas Heyer hat dieses Aussehen für die Nachlassreihe zu Harich ebenfalls gewählt und ihm schon jetzt eine umfangreichere Ausgabe verschafft, als sie Bloch und Lukács in der DDR zuteil wurden.
Die Dokumente der Jahre 1949-56 belegen den holprigen Start der Freundschaft zwischen Harich und Lukács. Der ungarische Starphilosoph hielt 1949 in Berlin einen Vortrag über Goethe. Der ihm bis dato unbekannte Kulturreporter Harich besuchte die Veranstaltung und verfasste für die „Tägliche Rundschau“ einen kritischen Bericht. Vollends überzeugt hat ihn dann später erst Lukács’ Herder-Interpretation, des- sen Kritik westlicher „Modephilosophie“ in „Marxismus und Existenzialismus“ und sein Werk „Der junge Hegel“. Harich half als Lektor auch manchmal redaktionell durch umfangreiche Textergänzungen und Ideen weiter. Beispielsweise ging der in der 2. Auflage hinzugefügte und heute heftig kritisierte Untertitel „Die Geschichte des Irrationalismus von Schelling bis Hitler“ bei Lukács’ Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ auf eine Anregung Harichs zurück, wie mehrere Briefstellen belegen. Harich und Lukács waren Kenner der klassischen deutschen Philosophie und Literatur und arbeiteten sich aus marxistischer Perspektive daran ab. Aus Harichs Texten geht ein methodisches Verständnis hervor, das dabei klare Linien zieht: Verteidigung des Marxismus gegen „bürgerliche“ Philosophie, Weiterentwicklung des Marxismus und vor allem des Leninismus, Überzeugungsarbeit für den Marxismus durch Argumente. Seine Terminologie ist dabei häufig leninistisch, Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ prägte Harichs Denken bedeutend mit. Allerdings unterscheidet er sich von engstirnigen, stalinistischen „Diplomschematikern“ (Bloch) dadurch, dass er mit oberflächlicher ideologischer Abwehrkritik nicht zufrieden war. Für ihn galt es, den „Klassenstandpunkt“ offensiv zu vertreten, in immanenter Aus- einandersetzung mit dem Gegner – was auch die Verwendung von dessen Litera tur im Original beinhalten müsse.
Dieses Credo bestimmte anfangs auch die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, die maßgeblich von Harich und Bloch aus der Taufe gehoben und bis 1956 geleitet wurde. Die Partei und ihre Ideologen waren von dieser Herangehensweise nicht angetan. Sie setzten auf Scholastik und Repression statt auf offenen Meinungsstreit. Beispiel Hegel: Dieser wurde von den „Diplomschematikern“ völlig reduziert und gebrandmarkt. Für Harich, Lukács und Bloch gab es hingegen Entwicklungsphasen in dessen Denken, beginnend beim flammenden Befürworter der Französischen Revolution, über den Napoleon-Bewunderer bis hin zum späten preußischen Staatsphilosophen, der trotz allem Reaktionären die Ideale der Französischen Revolution bejahte. 1952 schrieb Harich hierzu: „Die Philosophiestudenten, die wir heute ausbilden, werden morgen im ideologischen Kampf in Gesamtdeutschland ihren Mann stehen müssen. Sie werden sich mit der bürgerlichen Intelligenz Westdeutschlands auseinandersetzen müssen. Sie können das nicht, wenn sie sich nicht konkrete Kenntnisse unseres nationalen Kulturerbes aneignen, sondern stattdessen falsche sektiererische Auffassungen mit sich herum tragen.“ (157) Die sektiererischen Auffassungen waren in Harichs Augen übrigens jene, die nach 1956 unter dem „SED-Chefideologen“ Kurt Hager die DDR-Philosophie beherrschten und das freie Philosophieren eliminierten. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 kam es in der Sowjetunion und in den Ländern ihres Einflussgebietes zu Entstalinisierungsdebatten. In Ungarn ging die Bevölkerung auf die Straße, die Übergangsregierung unter dem später hingerichteten Imre Nagy versprach Reformen. Die im „Petöfi-Klub“ versammelten Intellektuellen forderten mehr Demokratie und Freiheiten. Lukács, der sowohl dort als auch als Minister in der Revolutionsregierung aktiv war, wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes verschleppt und kam erst Monate später und inzwischen mundtot gemacht aus Rumänien zurück nach Budapest.
In der DDR entwickelten 1956 Intellektuelle, stark von Lukács beeinflusst, Reformideen: Walter Ulbricht sollte durch einen beliebteren Staatschef ersetzt werden, mehr Freiheiten, weniger Bürokratie, Dogmatismus, Repression und Bevormundung – letztlich ein menschlicher, lebenswerter Sozialismus wurde eingefordert. Ulbricht geriet in Bedrängnis, auch weil sein Rückhalt in Moskau bröckelte. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes spitzten sich auch in Berlin und Leipzig die Ereignisse zu. Im Aufbau Verlag sammelten sich um Harich und Walter Janka Kulturfunktionäre gegen Ulbricht. Dieser ließ sie nach vorheriger Warnung in eine Falle laufen und Ende 1956 verhaften. Kurz darauf wurde auch Bloch mundtot gemacht. Er verließ die DDR später mit dem Mauerbau Richtung Westen. Harich und seine Mitstreiter kamen ins Zuchthaus. Persönlichen Kontakt oder Schriftverkehr hatten Harich und Lukács danach nie wieder. Dennoch hielt Harich die Fackel sei- nes Mentors in der DDR weiter hoch. Lukács war im gesamten „Ostblock“ nach 1956 für viele Jahre eine Unperson.
Harich, nach der Haftentlassung 1964 diszipliniert, hielt dennoch zu ihm und ließ sich davon nicht schrecken. Neben der ökologischen Frage wagte er nur in Bezug auf Lukács und Nietzsche permanente Kritik an der SED-Führung. Geläutert durch den Fehler des konspirativen Vorgehens 1956 agierte Harich nach der Haftentlassung 1964 überkorrekt, transparent und streng legalistisch. Er verfasste als Privatmann, denn an die Universität durfte er nicht zurück und wurde mit Lektoratsarbeiten zu Feuerbach und Jean Paul ruhig gestellt, Dutzende Briefe und Eingaben an SED-Funktionäre. Darin, und davon berichten u.a. die 30 Dokumente, die Heyer in den zweiten Teil des Buches gepackt hat, prangerte er an, dass die Parteiführung zwar Nietzsche der Bevölkerung zugänglich machen wolle, Lukács aber weiterhin als „Unperson“ behandle. In Bezug auf Nietzsche rückte Harich plötzlich in die Position desjenigen, der Primärtexte in den Giftschrank verbannen wollte. Das ließ die SED-Führung liberaler aussehen, als sie war und verstärkte Harichs Ruf als vermeintlicher Stalinist. Selbst etliche seiner Anhänger finden Harichs damaliges Vorgehen völlig überzogen. Dabei belegt es aber auch sein Festhalten an Lukács und das Eintreten für Feuerbach und Jean Paul. Harich war Kommunist. Wenn er in den 50-er Jahren mehr Meinungsstreit forderte, so betraf das innermarxistische Debatten. Wenn er in den 70-er Jahren den Zugang zu westlicher Ökologie-Literatur für DDR-Bürger forderte, so tat er dies im Sinne von Agitation. Wenn er in den 80-er Jahren gegen Nietzsche kämpfte, so dachte er in Kategorien des ideologischen Klassenkampfes. Er sah in den 80-er Jahren Bloch, Walter Benjamin, Adorno und die gesamte Frankfurter Schule als „zu bekämpfenden Neopositivismus“ an, wollte Nietzsche „ins Nichts“ verbannen, witterte überall unter den politischen und kulturellen SED-Funktionären Verschwörung gegen Lukács und für eine Ausbreitung des „Irrationalismus“ – und wunderte sich dann, warum der solches enthaltende Aufsatz „Mehr Respekt vor Lukács“ 1987 nicht von DDR-Zeitschriften gedruckt wurde. Ihm ging es immer um die kommunistische Sache, nie um bürgerlich-demokratische Freiheiten und Grundrechte. Erziehung durch Bildung – so lässt sich sein Ansatz wohl zusammenfassen. Das Ideal war die Schaffung eines sozialistischen, humanistisch gebildeten, mit linkem Patriotismus ausgestatteten, international-solidarisch denkenden Neuen Menschen. Lukács’ Werk der 50- er und 60-er Jahre repräsentierte für Harich genau dieses Ideal. Dass die SED dies nicht so sah, trieb Harich zur Verzweiflung. Das nachzulesen ist historisch erhellend, lehrreich, teils amüsant, manchmal traurig und häufig auch aus der Zeit gefallen. Es lohnt sich auf jeden Fall.

Dr. Alexander Amberger