Der konstruierte Dissident: Wolfgang Harich und seine Rolle als Oppositioneller

in: Alexander Amberger/Andreas Heyer: Der konstruierte Dissident. Wolfgang Harichs Weg zu einem undogmatischen Marxismus, Helle Panke e.V. (Hg.): Hefte zur DDR-Geschichte, Nr. 127, November 2011

INHALT

Alexander Amberger
Der konstruierte Dissident: Wolfgang Harich und seine Rolle als Oppositioneller
1. Im Kollisionsfeld von Interessen
2. Der „Fall“ Harich(s)
3. „… gebranntes Kind scheut das Feuer“
4. Vom Angeklagten zum Verteidiger
5. Dissident oder Opportunist? Eine Einschätzung
Quellenverzeichnis

Andreas Heyer:
Harichs Weg zu einem undogmatischen Marxismus 1946-1956
1. Einleitung
2. Auf Linie
3. Gegen den Strom
a) Brecht und die „volksfremde Dekadenz“
b) Heine und das Erbe der DDR
4. Gegen die Partei
a) Die Debatten um die Logik und Hegel
b) 1953
5. Abschließende Anmerkungen
a) 1956
b) Schluss

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LESEPROBE

Alexander Amberger

Der konstruierte Dissident Wolfgang Harich und seine Rolle als Oppositioneller

 1. Im Kollisionsfeld von Interessen Am 29. November 1956 wurde Wolfgang Harich verhaftet. Damit endete die akademische Karriere eines der größten intellektuellen Talente der jungen DDR bereits im Alter von 32 Jahren.[1] Wie Andreas Heyer im anderen Beitrag dieses Heftes beschreibt, war Harich zu diesem Zeitpunkt der aufstrebende Stern am Philosophenhimmel des Ostens. Und noch schneller als er aufgestiegen war, fiel er wieder. Seit dem Tag der Verhaftung galt er in der DDR als Gebrandmarkter. Der Verdacht der SED gegen Harich, ein Dissident, Querdenker und Abweichler zu sein, hatte bis 1989 Bestand.

 In der Bundesrepublik wurde er hingegen durch die Verhaftung über Nacht berühmt. Hatte sich zuvor kaum jemand außerhalb des intellektuellen Feldes für den Jungphilosophen aus Ost-Berlin interessiert, so bekam er 1956 durch das Agieren der SED-Spitze plötzlich enorme Aufmerksamkeit in den westlichen Medien. Harich wurde hier ebenfalls zum Dissidenten gemacht, dabei jedoch als Held und Opfer dargestellt. Dabei wollte er weder das Eine noch das Andere. Er sah sich nämlich nicht als Feind der DDR – und somit wollte er weder als solcher bestraft, noch belobigt werden.

 Der These, dass Wolfgang Harich sich nicht als Dissident oder Oppositioneller gegen das politische System der DDR bzw. die gesamte SED sah, dass ihm aber diese Rolle immer wieder von SED-Funktionären und Teilen der westlichen Medien zugeschrieben wurde, soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden.

 Hierzu soll zunächst geklärt werden, was unter den Begriffen Dissident und Oppositioneller zu verstehen ist, für die es in der Politik- und Geschichtswissenschaft keine einheitlichen Definitionen gibt. Die beiden Begriffe beziehen sich im vorliegenden Beitrag auf den realsozialistischen Typus eines politischen Systems. Dissidenten bzw. Oppositionelle wandten sich in diesen Systemen unter Inkaufnahme persönlicher und juristischer Konsequenzen gegen die (Politik der) herrschenden Eliten. In der Volkskammer der DDR gab es zwar Vertreter verschiedener Parteien und Massenorganisationen – wirklichen Kritikern der SED-Politik blieb diese jedoch versperrt. Für oppositionelles Handeln blieb deshalb nur der außerparlamentarische Raum, wobei es auch hier keine homogene Gruppe von Oppositionellen gab.[2] Diese Kritiker/Dissidenten/Oppositionellen einte, dass sie die herrschende Elite (öffentlich) kritisierten. Viele von ihnen wollten damit auch deren Legitimität schwächen, manche sie schließlich gar entmachten, wobei anschließend entweder andere sozialistische Eliten an die Stelle der Herrschenden treten sollten (bzw. die Oppositionellen selbst) oder gar das politische System als solches überwunden und durch ein sozialistisch- oder bürgerlich-demokratisches System ersetzt werden sollte. Vor dem Hintergrund dieses Schemas wird Harichs Verortung als Dissident bzw. Oppositioneller vorgenommen.

 Seitens der Vorwürfe durch die SED ist zu überprüfen, wie Harich zum Feindbild konstruiert wurde, welche machtstrategischen Ziele sich dahinter verbargen und was für Mechanismen dabei griffen. Und was animierte andererseits die westlichen Medien dazu, die Feindbildkonstruktion zu übernehmen und ausführlich über Harich zu berichten? Taten sie dies, um Harich antikommunistisch zu instrumentalisieren? Oder wollten sie ihm Öffentlichkeit verschaffen, um ihn gegen seine Ankläger zu unterstützen?

 Um diese Fragen zu beantworten, sollen im Folgenden Aussagen der unterschiedlichen Akteure ausgewertet werden, die etwas über das Wechselverhältnis zwischen Harich, verschiedenen wichtigen SED-Funktionären und den westlichen Medien aussagen. Es gilt, ihr Selbstverständnis zu beleuchten, ihre Interessen aufzuzeigen und letztlich die Konstruktion politischer Täter und Helden zu verdeutlichen.

 

[1] Zu Harichs Biographie vgl. u.a. Amberger [2011], Harich, A. [2007], Prokop [1997], Harich, W. [1999].

[2] „In seiner historischen Vielfalt reichte oppositionelles und widerständiges Verhalten in der SBZ/DDR von der Verweigerung bis zum individuellen Protest, vom bewussten, demonstrativen Aufbegehren bis zu sozialdemokratischem, christlich-demokratischem und liberalem Widerstand, der sich in Gruppen organisierte […], von kommunistischer Dissidenz bis zu innerparteilicher Opposition, von politischen Streiks bis zur spontanen Massenaktion und zu Unruhen, von der Bildung offen agierender Gruppen und Bürgerinitiativen bis zum Widerstand, der sich konspirativ gesammelt und aktiv gehandelt hat.“ Gutzeit [1997], S. 116.