Da Menschen arbeiten und denken können …

Zwischen Darwin und Marx – Evolutionstheorie und Sozialdemokratie

Rezension von: Richard Saage: Zwischen Darwin und Marx. Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34. Böhlau Verlag. 280 S., geb., 35 €.
Zuerst erschienen in: neues deutschland vom 24.05.2012

Passen ein biologistisches Menschenbild und eine SPD-Mitgliedschaft zusammen? Das fragten sich vor gut zwei Jahren nicht wenige, nachdem Thilo Sarrazin seine kruden Thesen publiziert hatte. Schließlich gehört der Sozialdarwinismus gemeinhin nicht zum ideengeschichtlichen Kanon der Sozialdemokratie. Das belegt nun auch der Politikwissenschaftler Richard Saage. Er sucht nach dem historischen Menschenbild der Sozialdemokratie und widmet sich dabei der linken Darwin-Rezeption vor 1933/34. Zu dieser gehören neben der damals schon intensiv geführten Auseinandersetzung mit Sozialdarwinisten auch Diskussionen über Darwins Theorien und deren Anwendbarkeit auf die Gesellschaft. Viele Primärquellen finden dabei Verwendung: Neben Texten von August Bebel, Eduard Bernstein oder Karl Kautsky hat Saage Beiträge vergessener Autoren aus sozialdemokratischen Theoriezeitschriften analysiert und bringt dabei lebhafte Debatten zurück ans Tageslicht.
Die Welt war nicht mehr die gleiche, nachdem im Jahr 1859 Marx‘ »Zur Kritik der politischen Ökonomie« und Darwins »Über die Entstehung der Arten« erschienen. Beide Jahrhundertdenker verstanden ihre Theorien als objektive Bewegungsgesetze der Geschichte. Während Marx sich gesellschaftstheoretisch verortete und damit einen politischen Anspruch verband, wollte Darwin »nur« eine naturwissenschaftliche Theorie vorgelegen. Entsprechend wandte er sich auch gegen deren politische Vereinnahmung. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass sowohl reaktionäre als auch linke Kreise nach Schnittmengen mit dem Darwinismus suchten. Saage zeigt auf, dass der Marxismus und der Darwinismus in der Sozialdemokratie Anklang fanden. Dankbar wurden Darwins Erkenntnisse aufgenommen, verband man damit doch die Hoffnung auf eine Schwächung der klerikalen Macht.
Mit dem Erfurter Programm von 1891 wurde der Marxismus schließlich zur hegemonialen Theorie der SPD. Damit spielte auch die positive Beurteilung Darwins durch Marx und Engels eine größere Rolle bei der Rezeption. Saage rekapituliert Engels‘ Angriffe auf Eugen Dühring, der den Darwinismus als »Scharlatanerie« bezeichnet hatte. Der Darwinismus, so schreibt Saage, sei »für manche Sozialdemokraten die naturwissenschaftliche Fundierung des Fortschrittsgedankens« gewesen. Die bis heute in Teilen der Linken verankerte Fortschrittsgläubigkeit resultiert damit, so kann geschlussfolgert werden, auch aus der frühen Darwinismusrezeption.
Gegenpol zu linken Lesarten des Darwinismus war schon damals der Sozialdarwinismus. Neben anderen werden von Saage hierzu Ernst Haeckel und Herbert Spencer zitiert, die im Sozialismus eine widernatürliche Fehlentwicklung sahen. »Übereinstimmend setzten die Vertreter eines Darwinismus von rechts den Kampf uns Dasein und die mit ihm korrelierte Selektion und Anpassung mit dem ökonomischen Konkurrenzprinzip gleich.« Saage stellt die sozialdemokratischen Argumente gegen die Rechtsdarwinisten dar und zeigt eine sozialistische Lesart des Darwinismus auf: Die Abstammungslehre wurde übernommen, die Selektionstheorie hingegen auf das Tierreich beschränkt, da Menschen arbeiten und denken können, was den Sozialismus möglich mache.
Aus Saages Buch geht hervor, dass sich in den damaligen Debatten intensiv mit der Übertragbarkeit der darwinschen Naturgesetze auf die Gesellschaft beschäftigt wurde. Beispielhaft hierfür ist der Streit zwischen dem sozialdemokratischen Zentrum und einigen Linksdarwinisten, die antirevolutionär waren und geschichtsphilosophisch eine »organische Assimilation« vor Augen hatten. Insbesondere Kautsky wandte sich gegen diese Schule und betonte, dass der Weg zum Sozialismus nicht über ein Naturgesetz vorbestimmt sei. Damit stand die Diskussion über den Darwinismus auch stellvertretend für den Streit über Ziel und Weg. Die heute fast vergessenen Linksdarwinisten werden im Buch wiederentdeckt. Saage schildert ihre eugenischen Ziele, fragt historisch einordnend aber auch zu Recht, ob sie »ihre rassehygienischen Optionen aufrechterhalten hätten, wenn sie das Dritte Reich« erlebt hätten.
Am Ende schildert der Autor Vorstellungen von Kommunisten wie Trotzki oder John Desmond Bernal aus dem frühen 20. Jahrhundert über die wissenschaftlich-technische Formbarkeit eines »Neuen Menschen«. Saage betont hier die Gefahren eines, wenn auch progressiv gemeinten, Bastelns am perfekten Menschen und schließt sich im Gegenzug Max Adlers Vorstellung über eine pädagogische Transformation der Gesellschaft an. Die Ausführungen des Austromarxisten Adler von 1924 über »Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung« sind mit Sicherheit auch pädagogisch wertvoller als das für September angekündigte Buch von Sarrazins Gattin Ursula, ebenfalls SPD, über ihre Erfahrungen im Berliner Schuldienst.