Alexander Amberger/Andreas Heyer: Dystopien in der DDR? Die Gesellschaftskritiker Robert Havemann, Gert Prokop und Wolfgang Harich

Erschienen in: Peter Seyferth (Hg.): Dystopie und Staat, Reihe Staatsverständnisse (Band 168), Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, ISBN 978-3-8487-7765-5, 74 €, S.245-266

LESEPROBE:

1) Einleitung
Es gibt verschiedene Arten, auf Krisen zu reagieren. Die positive Utopie nimmt von hier in ihrer neuzeitlichen Variante seit dem „Prototypen der gesamten Gattung“, der Utopia von Thomas Morus (1516), ihren Ausgang.(1) Seit der Epoche der Aufklärung trat diesem Denken eine gewichtige Utopiekritik zur Seite (von Defoe bis Swift, von Rousseau bis Diderot), die sich spätestens um 1900 wirkungsmächtig artikulierte und sich dabei der zentralen Prämisse der Utopie bediente: Dass der Hier und Jetzt handelnde Mensch verantwortlich für seine eigene Zukunft sei.(2) Als Jewgeni Samjatin 1920, tief enttäuscht von der Russischen Revolution und aus Angst vor ihren zu erwartenden Folgen seinen dystopischen Roman Wir verfasste, bediente er sich der utopischen Methode. Doch der kritisierten Gegenwart konnte er kein positives Gegenbild mehr konfrontieren. Daher schuf er ein düsteres und schwarzes Alternativszenario als Warnung. Die Vermutung liegt nahe, dass sich auch in der DDR dystopische Gedanken durch die Feder von Philosophen oder Künstlern zu geschlossenen Entwürfen verdichteten, um vor den möglichen Risiken und Fehl- entwicklungen des Sozialismus zu warnen. Doch dies war, in der vierzigjährigen Geschichte des kleineren deutschen Staates, nie richtig der Fall.

Zwar waren viele Bürger mit dem System unzufrieden, in den achtziger Jahren selbst innerhalb der SED-Mitgliederschaft.(3) Doch diese Kritik schlug sich kaum schriftlich nieder. Den meisten intellektuellen Kritikern der DDR, soweit diese nicht in den Westen geflohen waren, ging es hingegen darum, „ihren“ Staat zu verbessern, zu einem lebenswerteren Ort zu machen: Geschlossen dystopisch dachte hier kaum jemand, die Kritik sollte konstruktiv sein und war damit systemimmanent angelegt, d.h. innerhalb des Sozialismus oder Marxismus wirkend und diese modernisierend. Thesen oder Theorien, die für kapitalistische Strukturen plädierten, wurden selten geäußert. Dies hat einen wichtigen Grund darin, dass die DDR solche Texte weder gedruckt noch verbreitet, sondern stattdessen ihre Urheber saktioniert hätte. Aber es ist dieser Vermutung auch das Selbstverständnis jener aktiven Oppositionellen wie Harich 1956 sowie in den siebziger Jahren z. B. Biermann, Havemann oder Bahro zur Seite zu stellen, die sich zum Sozialismus bekannten oder diesen zumindest dem westlichen System vorzogen.

Dem Sozialismus und seiner philosophischen Fundierung, dem Marxismus, seien alle Kräfte und Potenziale inhärent, um die georteten Missstände zu beheben und eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Allen Problemen und Krisen zum Trotz sei der Sozialismus das bessere System: Weil er mit dem Faschismus radikal gebrochen habe, weil er anstrebe, die Entfremdung des Menschen aufzuheben, weil er versuche, ein Gleichheitspostulat umzusetzen, weil er den Kapitalismus überwunden habe, weil durch die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Voraussetzungen für den Aufbau des Kommunismus geschaffen worden seien. Das sind Aussagen, die sich so bei vielen SED-Kritikern finden lassen.(4) Dieses Konglomerat kann verdeutlichen, warum einige Oppositionelle der DDR sich der Utopie bedienten, um ihre Kritik am real existierenden Sozialismus zu äußern, ohne diesen freilich vollständig zu hinterfragen. Gleichzeitig vermischte sich der utopische Diskurs auch mit dem literarischen Genre der Science-Fiction in verschiedenen Kombinationen, so dass diese Gattungen hier nicht unterschieden werden.(5) Anhand ausgewählter Beispiele sollen die vorgetragenen Thesen überprüft werden.

2) Theoretische Vorbemerkungen

Es sind, da die zu besprechenden Texte…

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1 Vgl. hierzu grundlegend: Voßkamp 1985, II: S. 183–196. Honke 1985, II: S. 168–182. Ausführliche Bibliographie zu Morus, mit Kommentaren und weiteren Hinweisen in: Heyer 2008/2009, II: S. 153–266.
2 Vgl. hierzu nach wie vor die materialreiche Studie von Meyer 2001. Ausführlich zur Forschungssituation und -literatur siehe: Heyer 2008–2010, II: S. 49–84, III: S. 77–108.
3 Vgl. Pannen 2018.
4 Den besten Überblick bietet unter Nachzeichnung der wichtigen ideen- und staatsgeschichtlichen Linien: Kapferer 1990.
5 Die Science-Fiction-Literatur der DDR wurde in den letzten Jahren umfassend aufgearbeitet. Verwiesen sei hier nur auf Schriften von Karsten Greve, Karsten Kruschel, Erik Simon, Olaf Spittel oder Karlheinz und Angela Steinmüller.