Am 17. April 2023 luden Berliner Debatte Initial, „Helle Panke“ und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem Podiumsgespräch über den Stand der Stalinismus-Forschung vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges ein. Moderator Wladislaw Hedeler konstatierte anlässlich der Feierlichkeiten zu Stalins 70. Todestag in Moskau, dass dieser in Russland allgegenwärtig sei, egal wo man hinblickt. Inwieweit die derzeitige russische Regierung hierzu beiträgt, war ein Aspekt des Gespräches, an dem Dr. Irina Scherbakowa (vom „liquidierten“ und mit dem Friedensnobelpreis geehrten Verein Memorial), Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen) und Dr. Katja Makhotina (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) teilnahmen.
Hedeler wies eingangs darauf hin, dass bereits in den 1990er-Jahren unter Boris Jelzin die Namen der Täter des GULAG per Gesetz verschwiegen wurden. Im Russischen würden sie im Übrigen als „Henker“ bezeichnet, also verharmlosend zu bloßen Ausführenden eines systemischen Unrechts gemacht. In Putins Amtszeit 2008-2012 falle dann das Ende der „Archivrevolution“. Seither werde der ohnehin schon beschränkte Zugang zu den Akten schrittweise mittels bürokratischer Hürden eingeschränkt. Seit dem 24. Februar 2022 ist der Zugang zu den Archiven kaum mehr möglich.
Irina Scherbakowa berichtete über die Enteignung und Liquidierung von Memorial. Sie selbst hat Russland nach dem Kriegsausbruch verlassen. In den Jahrzehnten davor war sie führend an der Arbeit von Memorial beteiligt, wozu der Aufbau eines großen Archivs zu GULAG und Terror gehörte. Ihre Organisation hat für Gedenkbücher und Opferlisten recherchiert, um die Opfer des Stalinismus zu benennen. Einige Memorial-Historiker sind nach Kriegsbeginn in Russland geblieben und bestrebt, noch irgendwie mit den Archiven zu arbeiten. Jene Mitarbeiter, die das Land verlassen haben, versuchen von außerhalb der Landesgrenzen ein digitales Archiv aufzubauen.
Susanne Schattenberg, die auch Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen ist, berichtete von der Hoffnung ihrer Mitarbeiter, nach Corona endlich wieder in die russischen Archive reisen zu können. Die Situation kippte aber Anfang 2022 in Resignation um. Es brachen wissenschaftliche und private Kontakte ab. Forschungsreisen sind nicht mehr möglich. In der Folge än- derten sich rasch die Forschungsthemen: Positive Forschungsfragen zu Russland sind aktuell nicht bearbeitbar. Arbeiten, die sich auf Archivforschungen stützen, können nicht fortgeführt werden. Es betrifft das gesamte Selbstverständnis der Osteuropaforschung.
Katja Makhotina sagte, dass Geschichtsforschung im aktuellen Russland stark politisiert sei, was eine sachliche Stalinismus-Aufarbeitung nahezu unmöglich mache und Historiker der Gefahr strafrechtlicher und politischer Verfolgung aussetze. Der Umgang mit Stalin sei ambivalent, Teile seiner Politik würden verurteilt, es gebe Mahnmale für die Opfer. Anderes werde verklärt, manches beschönigt oder normalisiert – je nach politischem und subjektivem Bedarf. Die russische Gesellschaft sei im Hinblick auf Stalin gespalten: Ein Drittel der Bevölkerung sei unentschieden, ein Drittel pro Stalin, ein Drittel antistalinistisch. Positiv würden mit Stalin der Sieg über Nazideutschland und die weltpolitische Stärke Russlands assoziiert, wobei die stalinistischen Verbrechen in den Hintergrund rückten. Aufarbeitung sei hier nicht erwünscht. Eine staatliche Aufarbeitung gebe es kaum. Die Initiative hierzu müsse von den Einzelnen selbst kommen, sich ihrer Familiengeschichte zu stellen. Das sei teils traumatisch. In vielen Familien gebe es Opfer und Täter innerhalb einer Familie zugleich. Das erschwere die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte massiv. Memorial z. B. habe hier die Forschungsmöglichkeiten mit seinem Archiv der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Den Willen und das Bewusstsein, dieses Material auszuwerten, müsse jedoch die Bevölkerung selbst entwickeln.
Putin versuche schon seit Beginn seiner Amtszeit, die Erzählung eines starken Russlands zu etablieren. Kritik am Stalinismus werde hier schnell als antipatriotische Kritik am Staat ausgelegt und sei nicht erwünscht, so Scherbakowa. Auch heute gebe es noch Aufarbeitungsarbeit einzelner Akteure, aber ihre Arbeit werde immer schwieriger. Putin habe kein Interesse an freier, ergebnisoffener Geschichtsforschung. Doch nicht nur er, sondern viele seiner Anhänger hätten kein Interesse an faktenbasierter Wissenschaft. Geschichte werde zum Zweck politischer Propaganda instrumentalisiert, statt Wissenschaft wünsche Putin Geschichtsmythen und Verfälschungen, die ihm politisch nützen. Ein Grund liege auch im Bedeutungsverlust des Imperiums in den 1990er-Jahren. Putin sei es gelungen, zum Zwecke seiner eigenen Machtlegitimation die Erzählung der russischen Größe propagandistisch zu reaktivieren.
Noch ein Wort zu Wladislaw Hedeler: Er moderierte nicht bloß das Gespräch, sondern konnte dabei als einer der renommiertesten Stalinismus-Forscher, die es hierzulande gibt, auf seine eigenen Erfahrungen in Russland und in russischen Archiven zurückgreifen. Er verwies darauf, dass der russische Buchmarkt mit Massenauflagen preiswerter, mythologisierender und inhaltlich schwacher Geschichtsbücher überschwemmt werde, während die Publikationen von z. B. Memorial kleine Auflagen hätten und kaum zu finden seien. Die russischen Medien würden den Rest erledigen, um die Geschichte zu verfälschen.
Seine abschließende Frage lautete, ob in der Kommunismus-Forschung nun der Blick auf den stalinistischen Terror in den Hintergrund treten werde – zugunsten der Frage nach der russisch-sowjetischen Imperialismus-Geschichte in Bezug auf die Teilrepubliken und den ehemaligen Ostblock. Susanne Schattenberg verortete die große Zeit der Terroraufarbeitung auf die 1990er-Jahre. Danach sei die Forschung inhaltlich und chronologisch weitergezogen. Sie habe sich nun schwerpunktmäßig den Jahren von Chruschtschow und später Breschnew zugewandt. Zuletzt sei die Wissenschaft bei der Aufarbeitung von Glasnost und Perestroika angekommen. Durch den Krieg habe sich die Lage gravierend geändert. Statt Forschungskooperationen mit Moskau aufzubauen, dürfte sich der Fokus zukünftig auf die Aufarbeitung der Geschichte in den ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken richten, etwa nach Tiflis oder Almaty. Die FU Berlin habe z. B. ihr Kooperationsbüro schon von Moskau nach Tiflis verlegt. Weitere Institutionen werden folgen. Damit verlagere sich die Forschung auf die ehemaligen Sowjetrepubliken. Schattenberg warnte vor diesem Hintergrund davor, SU-Geschichte nur noch als Kolonialgeschichte zu deuten. Es sei sehr gefährlich, diese Vergangenheit etwa mit der Kolonialgeschichte Afrikas gleichzusetzen.
Doch nicht nur im Westen sei geschichtspolitische Aufmerksamkeit nötig. Scherbakowa prognostizierte, dass die russischen Schulbücher fortan die Ukraine nicht mehr (faktenbasiert) thematisieren würden. Auch die Geschichte des GULAG werde daraus verschwinden. Putin führe gleichfalls Krieg gegen die Geschichte und die Historiker. Sich dagegen zu wehren, werde ein sehr schwieriger Weg sein.
Das ganze Gespräch ist in der Mediathek der Hellen Panke als Videomitschnitt zu finden.