Wie viel Bellamy steckt in Rudolf Bahros „Alternative“? Ein utopiegeschichtlicher Vergleich

in: Berliner Debatte Initial 26 (2015) 2, S. 111-122

Aus der Einleitung:

Zur Ausgangslage

Als 1977 „Die Alternative“ von Rudolf Bahro in der Bundesrepublik erschien und er fast zeitgleich vom MfS verhaftet wurde, war das Echo gewaltig. Bahro, bis zu diesem Zeitpunkt ein nach außen unauffälliges Parteimitglied mittleren Alters, wurde über Nacht berühmt und von den westlichen Medien als Dissident gefeiert. Dabei wollte er nicht gegen die DDR agieren, sondern mit seinen Ideen und seinem utopischen Entwurf innerhalb des „Realsozialismus“ eine Diskussion über den richtigen Weg anregen. Andererseits hatte er die Veröffentlichung seines Textes im Westen von langer Hand geplant, nachdem ihm von staatlicher Seite eine wissenschaftliche Karriere in der DDR verbaut worden war. […] In der „Alternative“ entwickelte Bahro einen utopischen Gegenentwurf, in dem diese Mängel in der Produktion, die Widersprüche und Ungereimtheiten überwunden und in dem der Kommunismus mit seinen „in der Realität verkrüppelten“ emanzipatorischen Idealen endlich verwirklicht werden sollte. Hierbei spielte die Neuorganisation der Arbeitswelt eine zentrale Rolle.

Das Manuskript der „Alternative“ diskutierte Bahro konspirativ in einem kleinen Kreis von Vertrauten, die ihm auch Anregungen gaben. Zu diesen Vertrauenspersonen gehörte u.a. ein IM der Staatssicherheit, welcher Bahros Äußerungen umgehend an das MfS gab: Joachim Lucius, Musikredakteur beim DDR-Rundfunk, der in den Akten als IME „Rolf Anderson“ geführt wurde (vgl. Herzberg/Seifert 2005: 115). Er hatte im Auftrag der Stasi eine Freundschaft zum vermeintlichen Staatsfeind aufgebaut. Bahro sah in ihm einen intellektuellen Gesprächspartner, mit dem er über Teile seines Manuskriptes intensiv diskutieren konnte. 
Am 24. Juni 1976 gab Lucius zu Protokoll, was er am Tag zuvor mit Bahro besprochen hatte: „Ich […] riet ihm […], das Buch des amerikanischen utopischen Sozialisten Edward Bellamy, ein Rückblick aus dem Jahre 2000, noch einmal zur Hand zu nehmen, denn in diesem Buch aus dem Jahre 1887 sei genau sein Prinzip beschrieben. Bahro bestritt, diese Schrift zu kennen, den Buchtitel will er allerdings schon gehört haben. Er will es sich von mir borgen. Ich erklärte ihm, wenn er es nicht kenne, so habe er sich eine Menge überflüssige Arbeit gemacht, denn der Amerikaner habe die gleichen Gedanken schon vor 90 Jahren zu Papier gebracht, man hätte sie nur noch einmal zu überarbeiten brauchen. Bahro war allerdings der Meinung, das alles unterstreiche nur die Richtigkeit seiner eigenen Gedanken, wenn solche Erkenntnisse nach 90 Jahren immer noch nicht angewendet werden. B. schien dennoch betroffen zu sein, daß ich das Buch kenne. Es war, als wenn er sich beim Abschreiben ertappt fühlte“ (BStU, MfS, HA XX/9, Nr. 880, S. 31f.)
 Lucius verdächtigte Bahro also, abgeschrieben oder zumindest eine wesentliche Inspirationsquelle verschwiegen zu haben. Stimmt dieser Vorwurf? Hat Bahro Teile eines Klassikers der sozialistischen Utopiegeschichte plagiiert? Hierzu sei erwähnt, dass der Autor in seiner „Alternative“ so gut wie keine Quellen nannte. Weder erwähnte er Karl August Wittfogel, von dem er das Konzept der „Asiatischen Produktionsweise“ übernahm, noch all jene Marxisten, aus deren Fundus er sich bediente, um ihre Gedanken teilweise neu zusammenzufügen und im DDR-Rahmen zu kontextualisieren. Auch in seinem Plädoyer für die Utopie bezog er sich nur allgemein auf die Utopiegeschichte. „Die Alternative“ verfügt über kein Register, es gibt keine Quellenangaben, kein Personen- und Literaturverzeichnis. Die von Bahro direkt und indirekt verwendete Literatur zu rekapitulieren, um dem Buch einen Apparat nachzureichen, wäre ein eigenes Forschungsprojekt. Umso bemerkenswerter ist der Fund in den Stasiakten zu Bellamy und die Aussage des IM über Bahros Reaktion. Es handelt sich um ein Gedächtnisprotokoll, nicht um ein mitgeschnittenes Gespräch. Die Aussagen des Lucius können also auch einen sehr subjektiven Eindruck vermitteln. Dennoch ist sein Verdacht nicht aus der Luft gegriffen, zwischen Bahros „Alternative“ und Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ sind eindeutige Parallelen auszumachen. …

Den ganzen Aufsatz können Sie hier bestellen. Darin wird herausgearbeitet, was Lucius gemeint haben könnte und wo Unterschiede zwischen den beiden Utopien liegen.