Michael R. Krätke über den Zeitgenossen Karl Marx und zur Kritik der politischen Ökonomie heute
Rezension von: Michael R. Krätke: Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx. VSA-Verlag, 248 S., br., 19,80 €.
Zuerst veröffentlicht am 19. Januar 2018 in der Tageszeitung neues deutschland
Ebenfalls veröffentlicht auf der Homepage marx200
Sein 200. Geburtstag am 5. Mai sorgt für eine Fülle an neuen oder neu aufgelegten Publikationen. Einer der profiliertesten Kenner des Werkes von Marx und Engels im deutschsprachigen Raum ist Michael R. Krätke. Der Professor für Politische Ökonomie an der Universität Lancaster widmet sich in seinem neuen Buch der Aktualität von Marx’ politischer Ökonomie, aber auch der Frage, ob Engels die Bände 2 und 3 des »Kapitals« verfälscht habe. Bezüglich der Zielgruppe ergibt sich hieraus ein kleines Problem: Einige Beiträge sind durchaus für Einsteiger in das Thema Marx(-ismus) zu empfehlen. Andererseits führt Krätke seitenlang polemische Angriffe auf Vertreter einer »neuen Marx-Lektüre«, die für Laien kaum nachvollziehbar sind.
Höchst aufschlussreich ist es hingegen, wenn er sich auf sein Fachgebiet, die politische Ökonomie, konzentriert. Er liest Marx als Sozialökonomen, was wohl auch der Grund für seine Polemiken gegen die vermeintlich philosophischen, »hegelianischen« Deutungen ist. Marx habe in seinem Hauptwerk die Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus und nicht dessen »Ideal« aufzeigen wollen, so Krätke. Er verdeutlicht, dass das »Kapital« Prozesscharakter trägt. Das mehrfach überarbeitete Werk bezeichnet der Autor als das »große Unvollendete« von Marx, was nicht nur den unerfüllt gebliebenen Plan von sechs Bänden betreffe. Entsprechend bestehe dessen Erbe »aus den ungelösten Problemen« seiner Theorie, die linke Denker seither beschäftigen.
Noch heute habe Marx’ Kapitalismusanalyse Relevanz – um das System, das bekämpft werden soll, überhaupt zu verstehen. Sein Denken könne gegen allzu einfache linke Lösungsansätze immunisieren, gegen eine verkürzte Kapitalismuskritik und darauf aufbauende Illusionen – »von der Abschaffung der Armut durch Umverteilung über das Grundeinkommen, die Tauschbanken, die ganz radikale Geld- und Kreditreform, die Abschaffung des Zinses, die gemein- oder sozialwirtschaftlichen Inseln, die Vollbeschäftigung, den ganz ›billigen‹ Sozialstaat bis hin zum ›schuldenfreien‹, konsolidierten Staatshaushalt«.
Krätke bestreitet jeglichen Utopismus bei Marx und Engels. Er beschreibt hingegen, wie der junge Marx 1842/43 mit Artikeln über Holzdiebstahl und das Elend der Moselbauern zur politischen Ökonomie fand. Anhand der Zeitungstexte, insbesondere jener aus den 1850er Jahren, lasse sich sein politökonomischer Denk- und Entwicklungsprozess nachvollziehen. Krätke empfiehlt, die Artikel als Ergänzung zu den Hauptwerken zu lesen. Schon der junge Marx setzte sich unter anderem. mit den Fabrikgesetzen auseinander und wies nach, dass sie (entgegen des Geschreis der Fabrikantenlobby) der Industrie im Ganzen nicht geschadet, sondern im Gegenteil die Intensität und Produktivität durch Innovationszwang gesteigert hätten. Er analysierte die Nutznießer des britischen Kolonialismus und legte dabei den Grundstein für spätere linke Imperialismustheorien. Als Wirtschaftsjournalist entwarf Marx die ersten Ansätze seiner späteren Geldtheorie, zudem veröffentlichte er viele Artikel, die zum Verständnis seiner Krisentheorie beitragen.
In der Auseinandersetzung mit den damaligen ökonomischen Theorien entwickelte Marx seine Kritik. Krätke macht drei zentrale Kritiken aus: 1. die Kritik des modernen Kapitalismus, 2. die Kritik vorherrschender ökonomischer Theorien und 3. die Kritik hegemonialer ökonomischer Kategorien – also der jeweils herrschenden Ideologien. Mit Marx gegen die heute vorherrschende Neoklassik zu argumentieren heißt, deren vermeintlich »unpolitischen« wissenschaftlichen Anspruch zu entblößen und ihre Dogmen infrage zu stellen. Krätke schreibt: »Der Kampf gegen die ›Macht der Verhältnisse‹, die die daran Beteiligten verdummen, die Selbstverteidigung gegen die ›Irrtümer‹, die alltägliche Gewalt über uns haben – mit der kritischen politischen Ökonomie des Karl Marx wird beides leichter.«
Der abschließende Beitrag befasst sich mit dem »Marx-Engels-Problem«. Krätke vertritt die Meinung, dass Engels der beste Kenner von Marx gewesen sein dürfte, weshalb es logisch sei, dass er die Bände 2 und 3 des »Kapitals« nicht verfälscht haben könne. Da Marx vieles nur als Fragment hinterlassen habe, sei Engels zum Edieren gezwungen gewesen, habe dies aber mit größter Sorgfalt getan. Etwa ein Zehntel seiner Einfügungen habe Engels nicht kenntlich gemacht. Dies reiche aber nicht zum Vorwurf der Verfälschung.
Die Erhebung dieses Vorwurfs attestiert der Autor der »neuen Marx-Lektüre«. Der Streit gehe um Marx’ historische Analyse des Kapitalismus bzw. dessen Historisierung. Die Debatte läuft letztlich auf die Frage nach der Aktualität bzw. Aktualisierbarkeit des Marx’schen Denkens hinaus. Ist sein Werk politisch-ökonomisch aktuell oder eher philosophisch? Eine recht überflüssige Debatte, wenn man sich die Schwäche des linken Lagers vor Augen führt.