Utopieforscher ohne Utopie

Rezension des Sammelbandes „Auf Utopias Spuren: Utopie und Utopieforschung.“
Von Hermann Klenner, in: neues deutschland vom 14.07.2017 

Alex Amberger und Kollegen haben sich auf die Spur von Thomas Morus und dessen Eleven begeben
Gewidmet ist der Band dem im Gefolge der Wende zum Universitätsprofessor nach Halle an der Saale berufenen und dort bis zur Emeritierung lehrenden Richard Saage.

Der einstmalige Schüler der Gelehrten Iring Fetscher und Helga Grebing betonte stets, kein Utopist zu sein. Und nun also ist er anlässlich seines 75. Geburtstages mit einem Utopie-Band geehrt worden.
Diese gerechtfertigte Ehrung erfolgte, wie es der Zufall so will, 500 Jahre, nachdem Thomas Morus mit seinem Büchlein über den auf der Insel Utopia angeblich verwirklichten, jedenfalls besten Staatszustand einer ganzen Literaturgattung zu einem Namen verhalf. Mit ihren Forschungsergebnissen erweitern, vertiefen und verallgemeinern die zwei Dutzend Autoren der Anthologie den bisherigen Wissensstand. Um den Reichtum der erörterten Probleme wenigstens anzudeuten: Die seit langem und neuerdings wieder fragwürdig gemachte Urheberschaft des Begriffs und selbst des Namens »Utopia« dürfte nunmehr endgültig geklärt sein, denn es war eben doch nicht Erasmus, sondern Morus, dem wir Werk und Wort verdanken. Weiterhin werden Einblicke in das utopische Gedankengut von Konfuzius, von Campanella, von Gustav Landauer, aber auch von Voltaire anhand seines ausgerechnet einen Leibniz ironisierenden Reiseromans, sowie vom Hegel-Freund und Marx-Lehrer Eduard Gans geboten. Es wird über den weithin unbekannten Johann Adolf Dori berichtet, der bereits um 1800 die Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens als Gebot der praktischen Vernunft entwickelte.
Besondere Beachtung verdient die sich mit der »Veralltäglichung« der Utopie in Gestalt eines kommunalen Experiments im Roten Wien von 1927 beschäftigende Abhandlung, zumal der damals in der »Arbeiter-Zeitung« veröffentlichte Aufruf auch von Alfred Adler, Siegmund Freud, Hans Kelsen, Alma Mahler, Robert Musil, Anton Webern und Franz Werfel unterzeichnet worden war. Gleiches gilt, wenn auch aus anderen Gründen, für den Einfluss von Ernst Blochs utopischem Wollen auf die untauglichen Versuche mit untauglichen Mitteln linker DDR-Oppositioneller. Überraschendes Material findet sich in Essays, die sich anhand des Reiseberichts eines Afrikaners in das wilhelminische Deutschland mit der sogenannten, gegenwärtig in Mode gekommenen Cross-Kulturalität beschäftigen, auch mit ökologischer Utopie samt »Gender-Politics«, mit dem Verhältnis von Universalität und Diversität, mit dem Stellenwert der Utopie im zeitgenössischen, Richard Wagners »Die Kunst und die Revolution« (1849) fortsetzenden Musiktheater bis hin zur Utopie einer totalen Vernetzung in einem Arbeit und Freizeit lokal vereinigenden Firmencampus. Auch Gegenstücke von Utopien (sogenannte Dystopien) werden erörtert, die Fortschrittskritik Mereschkowskijs sowie der Untergang des weißen und christlichen Abendlandes durch »multikulturelle Einebnung der Werte«.
Wie alle politischen Konzeptionen haben auch Sozial-Utopien eine analytische und eine normative Ebene: Indem sich ihre Autoren bessere als die gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse ausdenken, kritisieren sie die in ihrer Gegenwart erlebbaren Zustände; sie orientieren damit auf ein künftig ganz anderes Zusammenleben der Menschen.
Was bei aller Vielfalt der erörterten Gesichtspunkte bedenklich stimmt: In ihrer Gesamtheit lassen die Autoren des Bandes kaum, wenig oder gar nicht erkennen, welche Bedeutung die Utopien von ehemals für die heutigen Zustände im Zusammenleben der Menschen haben oder wenigstens haben könnten. Das Missverhältnis zwischen dem, was im Hier und Heute tatsächlich ist, und dem, was im Hier und Heute wenigstens möglich wäre, aufzudecken, ist nun einmal für Wissenschaftler unverzichtbar, und Utopieforscher bilden da keine Ausnahme.

Alexander Amberger/ Thomas Möbius (Hg.): Auf Utopias Spuren: Utopie und Utopieforschung. Springer. 430 S., br., 69,99 €.