Rezension von: Thomas Möbius „Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin. Historische Konstellationen und Bezüge“

Eine gekürzte Fassung dieses Textes erscheint in der „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“

Möbius, Thomas: Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin. Historische Konstellationen und Bezüge, LIT Verlag, Berlin/Münster 2015, 760 Seiten, 79,90 Euro

„Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin“ ist das Mammutwerk betitelt. Daraus leitet sich sowohl der Zeitraum ab als auch die behandelte Gattungsgeschichte. Der Titel führt allerdings etwas in die Irre: Die Personifizierung durch zwei der bekanntesten russischen bzw. sowjetischen Herrscher deutet auf einen Praxisbezug hin, der bestenfalls die Hälfte des Buches ausmacht. Der andere Teil stellt literarische Utopien vor, die in dieser Zeit verfasst wurden.
Diese Diskrepanz erweist sich beim Blick auf den Utopiebegriff von Möbius jedoch als unbedeutend. Im Gegenteil: Gerade die Herausarbeitung des dialektischen Verhältnisses der Utopie, die gegenseitige Bedingung und Beeinflussung von Theorie und Praxis zeichnen das Buch aus. Der Utopieforscher Richard Saage betont dies im Vorwort: „Vor allem aber geht aus der Studie Möbius` die Dialektik hervor, die in Gang gesetzt wird, wenn sich die Utopie auf politische Praxis im Sinne der unmittelbaren Veränderung der gesellschaftlichen Realität einläßt, die ihr ursprünglich fremd war.“ (3)
Neben dem Wechselspiel zwischen konkreter und abstrakter Theorie im Sinne Ernst Blochs durchzieht die russische Utopie- und Theoriegeschichte das Verhältnis zum Westen als Bejahung oder Verneinung in Form von antiwestlicher Slawophilie.
Der Machtantritt Peters I. stellt in der Geschichte Russlands eine Zäsur dar. Seine Utopie lag im Westen. Die Europäische Aufklärung und mit ihr der technische und soziale Fortschritt sollten auch im russischen Großreich Fuß fassen. Der erste Teil des Buches beginnt hier und endet bei der zweiten, für die globale (Utopie-)Geschichte noch viel wesentlicheren Zäsur: der Revolution 1917. Nach dem Ersten Weltkrieg entlud sich eine ungeheure Wucht an angestautem Utopismus mit einem Schlag und wurde zu konkreter Utopie. Eine neue Welt schien möglich, zahllose Akteure unterschiedlichster Provenienz drangen auf die Realisierung ihrer Wunschbilder. Es war die Zeit der Experimente – in Geist, aber vor allem in der Realität. In diesem zweiten Teil des Buches überwiegen die Utopien mit konkretem Bezug zur Gegenwart. Ihre Umsetzung schien kurzfristig möglich.
Wer sich mit Utopien beschäftigt, merkt sehr bald, dass das Thema methodisch schwer einzugrenzen ist. Umgangssprachlich wird der Begriff häufig abwertend benutzt, für „Spinner“, die nicht verstehen wollen, dass das Gegebene „alternativlos“ sei. Aber auch innerhalb der Forschung ist der Begriff umstritten. Möbius definiert „Utopie“ in Anlehnung an seinen Co-Doktorvater Richard Saage als „klassisch“ im Sinne der fünfhundert Jahre alten „Utopia“ von Thomas Morus. Eine Utopie setzt sich hiernach aus der Kritik am Bestehenden und einer konkreten Alternative zusammen, die sich darauf bezieht und einen Gegenentwurf zum Gegebenen darstellt. Die Form dieser Alternative ist dabei nicht auf den Staatsroman beschränkt, sie kann auch als Architektur bzw. Stadtplanung, in Form von Musik, als „gelebte Utopie“ im Rahmen von Kommuneexperimenten oder als Reisebericht auftreten. Bedingung ist, dass sie historisch „nach vorn“ weist, also nicht regressiv ausgerichtet ist. In Bezug auf Möbius` Darstellung der russischen Utopiegeschichte heißt das, dass slawophil-religiöse Entwürfe ebenso herausfallen wie z.B. technisch-wissenschaftliche Fantastik ohne politischen Bezug zur Gegenwart des Verfassers. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt Möbius trotz des voluminösen Umfanges seiner Schrift ohnehin nicht. So spart er beispielsweise Kropotkin und Tolstoi aus, die so mancher wohl als unverzichtbar bezeichnen würde. Ihm geht es um jene Utopien, denen „Schlüsselpositionen“ im politischen Denken Russlands zukommen.
Wie der Buchtitel bereits sagt, arbeitet sich Möbius chronologisch durch die russische Utopiegeschichte. Den Anfang setzt er bei Peter I., mit dem die Aufklärung und das utopische Denken in Form eines „Staatsutopismus“ nach Russland gekommen seien. Peter I. habe dem mittelalterlichen Russland die Utopie einer westlichen Moderne gegenübergestellt. Seine Politik war der Versuch, diese Utopie in die Praxis umzusetzen, was sich in der Stadtplanung ebenso bemerkbar machte wie in der Reformierung der Adelsstrukturen. Trotz umfangreicher Erneuerungen habe Peter I. seine Ideen nicht vollends realisieren können, und nach seiner Amtszeit sei das Tempo der Reformen deutlich zurückgegangen. Erst unter Katharina II. wurde eine umfassende Modernisierung wieder aufgenommen.
Der russische Utopiediskurs reagierte auf dieses politische Geschehen, wie Möbius anhand ausgewählter Autoren aufzeigt. Michail M. Schtscherbatow beschrieb 1784 in seinem Roman „Reise ins Land Ophir …“ ein fiktives Land, in dem der Adel privilegiert ist sowie tugendhaft und rational regiert. Er stellt dies dem Absolutismus Katharinas II. gegenüber. Deren Adelsreform wollte er zurückdrehen. Somit kann man durchaus fragen, ob es sich tatsächlich um eine Utopie handelt oder ob Schtscherbatows Entwurf hierfür zu regressiv ist. Immerhin bezeichnet ihn Möbius insofern als innovativ, als er den Rationalismus der französischen Aufklärung mit der russischen Tradition verbinden wollte. Der zeitgenössische Gegenentwurf zu Schtscherbatows Adelsutopie erschien 1790. A. N. Raditschtschews fiktive „Reise von Petersburg nach Moskau“ kritisiert die russische Aristokratie und plädiert für eine revolutionäre Bauernbefreiung gegen die Leibeigenschaft und die Autokratie. Gegen den Autor wurde ein Schauprozess inszeniert, es folgten Verbannung, Begnadigung und schließlich 1802 Suizid.
Raditschtschews Ziel jedoch, die Ideale der französischen Revolution in Russland praktisch umzusetzen, lebte weiter. Bekannt sind in diesem Kontext die revolutionär ungeduldigen Dekabristen, die 1825 mit ihrem Aufstand scheiterten und damit mehr staatliche Repressionen legitimierten. Es setzte eine bleierne Zeit ein, anti-westlich, repressiv, gegenemanzipatorisch. Die Utopieproduktion verlagerte sich jetzt in die Literatur. Die entstehende Intelligenzija utopisierte in Salons und im stillen Kämmerlein. Schon bald spaltete sie sich in westlich Orientierte und Slawophile. Deren Streit prägte fortan die Utopieproduktion in Russland. Das Land stagnierte, Zensur und Repressionen blockierten das Nachdenken und Diskutieren dringend notwendiger Reformen. Während in Westeuropa der Kapitalismus und mit ihm die sozialistische Bewegung erstarkte, steckte Russland noch tief im Feudalismus. Die junge Intelligenz war auf Sinnsuche, strebte nach Emanzipation und neuen Lebenszielen. Den Gipfel dieses Denkens stellt Tschernyschewskis „Was tun?“ dar. Möbius zeigt das Buch als Schlüsselroman für die Zeit. Es sei prägend für mehr als eine Generation russischer Linker gewesen, wurde geradezu liturgisch gelesen und erzielte eine enorme Wirkung. Der von Tschernyschewski in der Haft verfasste utopische Roman erschien 1867 und bediente zwei Wünsche der Intelligenzija: Sie wollte mit Gewalt das Alte umstürzen und die neue Gesellschaft basierend auf Bildung aufbauen. Der Wissenschaft kommt eine zentrale Rolle zu. Sie stellt die Grundlage für ein widerspruchsfreies, rationalistisches, fortschrittsorientiertes und frei von Verwaltung funktionierendes Gemeinwesen dar. Auch Tschernyschewski sucht eine Verbindung von Tradition und Moderne, von russischen Traditionen und westlichen emanzipatorischen modernen Sozialismusansätzen. Sein Neuer Mensch trägt einen „vernünftigen Egoismus“ in sich, die Befreiung der Frau und der Liebe sind in „Was tun?“ zentrale Anliegen. Mit seinem Protagonisten Rachmetow entwickelt Tschernyschewski eine Vorlage des asketischen Berufsrevolutionärs, der in den Jahren bis zur Oktoberrevolution prägend für die militante Opposition gegen den Zarismus sein wird.
Die Idealisierung dieses Kämpfertyps, der Intellekt und Gewalt in sich vereint, fand eine große Anhängerschaft, aber auch namhafte Gegenstimmen. Die bekannteste unter ihnen war Dostojewski. Er galt als „schärfster Kritiker“ der Westler (zu denen er bis zu seiner Inhaftierung 1849 selbst zählte). Laut Möbius schrieb Dostojewski gegen Vernunftoptimismus, ein sozialistisches Menschenbild, Rationalismus, Materialismus und Liberalismus an. Der 1864 erschienene Text „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ kann als erste Antiutopie gelesen werden, als „anthropologischer Aufschrei“ gegen das utopische Ideal eines Neuen Menschen, wie es vor allem in „Was tun?“ glorifiziert wurde. Gegen dessen Vernunftideal positionierte Dostojewski den „freien Willen“ des Individuums. Für ihn war es eine begrüßenswerte Tatsache, dass die Triebe stärker handlungsleitend sind als die Vernunft. Tschernyschewskis Glücksverheißung war für ihn eine „Zwangsjacke der Inhumanität“. So interpretiert, warnte Dostojewski schon früh vor den totalitären Gefahren eines widerspruchsfreien, kollektivistischen Kommunismus. Diese Kritik sollte später in den bekannten Dystopien des 20. Jahrhunderts weitergeführt werden. Dieser klugen und überaus berechtigten Warnung vor den Zwängen eines absoluten Kollektivismus steht Dostojewskis eigener Entwurf einer Idealgesellschaft gegenüber. Er propagiert ein von sittlich-religiösen Idealen gekennzeichnetes „Goldenes Zeitalter“ und betont die historische Mission Großrusslands. Sein eschatologisches „Reich der Liebe“ ist antiwestlich, antimodernistisch, panslawistisch und tendenziell auch antisemitisch. Möbius charakterisiert den Entwurf als „zutiefst reaktionär“ und antiemanzipatorisch. Er schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, wenn er zugleich nicht Dostojewskis Pionierleistungen für spätere kritisch-theoretische Disziplinen wie die Anthropologie oder die Psychoanalyse – gerade auch im Hinblick auf die Selbstkritik der Linken – anerkennend gegenüberstellt.
Tschernyschewski vs. Dostojewski – dieses Spannungsfeld blieb für die folgenden Jahrzehnte Kristallisationspunkt der utopischen Stränge in Russland. Rationalistische Glücksversprechen standen dystopischen Freiheitsverteidigungen gegenüber. Das Zarenreich bildete die Folie für Kritik und Gegenentwürfe in beide Richtungen. Und das Reich geriet mehr und mehr in die Krise. Nur die Metropolen und hier vor allem Sankt Petersburg machten die westliche Entwicklung mit. Hier entwickelte sich die Industrie, mit ihr eine Arbeiterbewegung, und hier kam es auch zu den Revolutionen im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Die russischen Marxisten blickten nach Westen und wollten ihr Agrar- und Flächenland revolutionieren.
Im Westen blühten zu dieser Zeit Technikutopien und Science Fiction. H.G. Wells, Jules Verne oder Edward Bellamy – um nur einige zu nennen – lieferten Bestseller wie am Fließband. Dieser Trend schwappte auch nach Russland. Hier hieß der erste Erfolgsautor einer Utopie, die Marxismus und Technikeuphorie verschmilzt, Alexander Bogdanow. Sein 1907 erschienener Roman „Der Rote Stern“ wurde zum wirkmächtigen Buch der Bolschewiki, wenngleich Lenin wenig angetan von dessen Utopismus war. 1911 folgte die Fortsetzung „Ingenieur Menni“, in der rückblickend die Entstehung des Sozialismus auf dem Mars beschrieben wird. Lenin sorgte dafür, dass Bogdanow 1910 aus dem ZK der Partei ausgeschlossen wurde. Dieser hielt die Arbeiter noch nicht reif für die Revolution. Ohne diese kulturelle Reife drohe eine Revolution in Barbarei abzugleiten. Um dies zu vermeiden, sollten erst eine umfassende Arbeiterbildung und eine Kulturrevolution in Form des „Proletkult“ erfolgen. Bogdanow entwickelte hierzu seine „Organisationswissenschaft“, die im Kontrast zur Politik und Programmatik Lenins stand. Beide Utopien Bogdanows sind laut Möbius eine literarische Popularisierung dieser „Organisationswissenschaft“. Der Autor beschreibt in ihnen den entwickelten Kommunismus in der Zukunft: Die Natur wurde erfolgreich unterworfen, Technik, Wissenschaft und Bildung stellen das Funktionsgerüst der Gesellschaft dar. Die Kulturrevolution hat einen emanzipierten Neuen Menschen hervorgebracht, dessen Elite aus asketischen Technikern besteht, die das System lenken. Ihre Macht leitet sich nicht mehr durch die Verfügung über die Produktionsmittel ab, sondern über Wissen. Die Formel „Wissen ist Macht“ wurde wohl selten so unmittelbar in einen utopischen Entwurf übersetzt.
In der Revolution 1917 spielte Bogdanow zeitweise eine Rolle, als er versuchte, seinen Proletkult zu realisieren. Er war dabei nur einer von vielen Akteuren im „utopischen Feld Russland“. Dieses ist das Thema in der zweiten Hälfte des Buches. Die ersten beiden Jahrzehnte der Sowjetunion waren geprägt vom Aufstieg und Niedergang des Utopischen, vom schrittweisen Sieg der Realpolitik und ihrer Ideologie. Möbius zeichnet diesen Wandel am Beispiel der Vorstellungen einer neuen, sozialistischen Lebensweise akribisch nach. Die Literatur spielt hierbei nur einen kleinen Part. Die „neue Lebensweise“ umfasste Ökonomie, Architektur/Stadtplanung, Geschlechterrollen, Familienbilder, Bildungssysteme, Verwaltung. Nahezu alle Bereiche der Gesellschaft kamen auf den Prüfstand. „Alles schien machbar, alles im Hier und Jetzt erreichbar. Rußland wurde von zwei Bewegungen zugleich erfasst, die in utopischer Weise auf eine neue Welt zielten: auf der einen Seite die sozialistische Bewegung mit den Bolschewiki, Sozialrevolutionären und Anarchisten, auf der anderen die Avantgarde und ihre ästhetische Revolution. Ging es ersteren um eine radikale politische, ökonomische und soziale Neuordnung, beanspruchte die Avantgarde, in der Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden. Mit der ästhetischen Neuschöpfung der Gesellschaft und des Menschen überbot die Avantgarde die Bolschewiki noch an Radikalität und Totalität. In das Experiment der utopischen Neuschöpfung wurde das Leben als Ganzes hineingezogen: vom Alltagsdesign für Teller und Tassen bis hin zur Umgestaltung des Menschen und der Überwindung des Todes.“ (349) Gesellschaftliche Emanzipation und uneingeschränkter Technikglaube waren die Triebfedern. Eine neue Welt schien möglich, ein Neuer Mensch schwebte den Revolutionären vor. Bildlich geschildert wurde er etwa von Trotzki: „Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen“ (351). Trotzki war als führender Bolschewik ein Vertreter jener neuen Ordnung, die von Beginn an einerseits selbst utopische Experimente versuchte, andererseits konkurrierende Utopien bekämpfte.
Möbius stellt verschiedene Entwürfe der „neuen Lebensweise“ vor: Alexandra Kollontais Modell einer Neuordnung von Geschlechterrollen, Familienbildern und Sexualität wurde damals viel diskutiert. Eine Aufhebung der tradierten Kleinfamilie schien möglich. Mit der Einführung des Neuen Ökonomischen Systems erfuhren diese Debatten jedoch einen herben Rückschlag, unter anderem weil die Männer aus dem Bürgerkrieg zurückkehrten und die Regierung ihre Ausgaben für Kinderbetreuung u.ä. zurückfuhr. Kollontais emanzipatorische Ideen scheiterten an der politisch-ökonomischen Praxis. 
Viel Platz räumt Möbius städtebaulichen Utopien ein. Sie wollten eine völlige Neuordnung der gesamten Wohnfrage. Die klassische Aufteilung zwischen enger, schmutziger Stadt und agrarischem Land sollte beseitigt werden. Ähnlich wie in westlichen Sozialutopien (vor allem bei William Morris), sollten die ungesunden Lebensbedingungen in der Stadt überwunden werden, Wohnen würde für alle erholsam und kraftschöpfend sein. Kommunehäuser hinterfragten soziale Hierarchien und alte Familienmodelle. Die Rolle der Hausfrau sollte abgeschafft werden, ihre Arbeit wurde vergesellschaftet. Dorfartige Kinderkommunen sollten helfen, den Neuen Menschen zu erziehen und traditionelle Mutter-Vater-Kind-Muster aufzubrechen. Im Unterschied zu so mancher späterer Hippiekommune ging es nicht um Eskapismus, sondern um eine avantgardistische Erprobung von Neuem. Möbius stellt jedoch klar, dass diese Form von Kommunewohnen nie eine Massenbewegung war und zu Bestzeiten etwa 50.000 Menschen umfasste. Es gab auch nur wenige wirkliche Kommunehäuser. 
Daneben existierten utopische Stadtentwürfe wie z.B. Krutikows fliegende Stadt der Zukunft oder Chidekels Stelzenstädte. Diese Entwürfe waren durchaus ernst gemeint, basierten sie doch auf einem Technikoptimismus, der sie mittels Kernkraft und technischem Fortschritt mittelfristig realisierbar werden lassen sollte. Die Ansprüche dieser avantgardistischen Stadtplaner gingen weit über die von ihnen als kleinbürgerlich kritisierte „Futtertrog-Ideologie“ (Malewitsch) der Bolschewiki hinaus. Ihre futuristischen Entwürfe blieben jedoch Utopie.
Realisiert wurden hingegen Ansätze der Gartenstadtutopie. Die enge, stickige Industriestadt der Jahrhundertwende sollte der Vergangenheit angehören. Zersiedelung, Dezentralisierung, Durchlüftung und viel Grün waren das Ziel. Man hatte Platz für Ideen – bis Mitte der zwanziger Jahre die Industrialisierung neue Sachzwänge engen Wohnens mit sich brachte. Auch hier obsiegte die Realpolitik über die Utopie. Die russische Avantgarde war, anders als z.B. das Bauhaus, nicht bereit, die realen Anforderungen mit zu planen.
In der Realität schlugen viele positiv gemeinte utopische Ansätze, vor allem jene einer kollektiven Lebensweise Neuer Menschen, in dystopischen Zwang um. Als einer der ersten wies Anfang der zwanziger Jahre Jewgenij Samjatin in seinem Buch „Wir“ warnend darauf hin. Es gilt als erste Dystopie und direkte Vorlage für Huxleys „Schöne neue Welt“ und Orwells „1984“. Möbius differenziert ausführlich die unterschiedlichen Lesarten des Romans, die je nach politischem Standpunkt als Kritik am Bolschewismus oder am Taylorismus ausgelegt werden. „Wir“ ist eine Markscheide in der Utopiegeschichte. Blickte das Genre bis dahin positiv nach vorn, basierend auf technisch fernen Wunschträumen wie Zeitreisen oder Exkursionen ins All, so schien Utopie plötzlich realisierbar zu sein. Zugleich war der Mensch aber dafür noch nicht geschaffen. Und so sorgte die technische Entwicklung eben nicht für die Befreiung des Individuums in einer egalitären Masse, sondern machte den Einzelnen egal, austauschbar, zu einem beliebig ersetzbaren Rädchen in der Mega-Maschine. Das dystopische Genre kann genau in diesem Sinne als Selbstkorrektiv des utopischen Diskurses gesehen werden. Samjatins Dystopie wurde zensiert. Er selbst verließ 1931 die Sowjetunion. Er wollte mit seiner Literatur die Bolschewiki kritisch begleiten, ohne sie zu bekämpfen. Kritik war jedoch nicht mehr erwünscht. Der Umschlag von Utopie zu Ideologie war schon erfolgt.
Mit einem Exkurs über die utopischen Züge westlicher Reiseberichte in die junge SU endet das Buch. Den Stalinismus in seiner Hochphase klammert Möbius weitestgehend aus. Über dessen utopischen, dystopischen oder auch anti-utopischen Gehalt ließen sich weitere Bände füllen.