Ein Vergleich der Konzepte von Rudolf Bahro, Wolfgang Harich und Robert Havemann aus den siebziger Jahren
Zuerst veröffentlich in: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Nr. 44, September 2013
Von konservativen Intellektuellen wie Karl Popper und Joachim Fest wurde nach 1990 das Ende der Utopie verkündet. Für sie war die gesamte Gattung per se totalitär und damit repräsentativ für die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, gleich ob „rot“ oder „braun“. Diese Lesart übergeht jedoch völlig, dass es in der Utopiegeschichte nicht nur archistische, etatistische Konzepte gab, sondern auch eine ebenso beachtliche Tradition an anarchistischen Texten.
In der DDR der siebziger Jahre wandten sich nun drei als Dissidenten bekannt gewordene Denker der politischen Utopie zu. Sie blieben damit nicht, wie die meisten Oppositionellen des sog. Ostblocks, bei der Kritik an stalinistischen Strukturen stehen, sondern nutzten die Utopie, um gleichfalls globale Fragen zu thematisieren. Für sie war damit nicht nur die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, sondern auch – und vielleicht sogar in noch stärkerem Maße – das Erscheinen des ersten Berichtes an den Club of Rome 1972 zu den „Grenzen des Wachstums“ prägend.
Diese drei marxistischen Systemkritiker waren Rudolf Bahro mit seinem Buch „Die Alternative“ (1977), Wolfgang Harich mit „Kommunismus ohne Wachstum?“ (1975) und Robert Havemann mit „Morgen“ (1980). Ihre utopischen Texte benennen nicht nur innere und äußere Widersprüche des Realsozialismus, sie fordern nicht allein Bürger- und Menschenrechte ein – nein, sie nutzen die Utopie auch, um konkrete Gegenentwürfe zum Bestehenden zu zeichnen. Dabei unterscheiden sie sich untereinander: Während Harich als einer von ganz wenigen Intellektuellen nach 1945 die archistische Utopielinie reaktivierte und eine globale Ökodiktatur als einzigen Ausweg aus dem Wachstumsdilemma empfahl, orientierten sich Bahro und Havemann an der anarchistischen Entwicklungslinie, ohne dabei jedoch gänzlich auf Lenin verzichten zu wollen. Alle drei übten mittels der Utopie Kritik von links innerhalb eines sich selbst als sozialistisch deklarierenden Systems, was nach der konservativen Utopiekritik eigentlich unmöglich ist.
Und die Texte bieten noch viel mehr, nämlich eine intensive Auseinandersetzung auf marxistischer Basis mit den Widersprüchen zwischen (kapitalistischem) Wachstum und der Endlichkeit der Ressourcen. Vieles, was Bahro, Harich und Havemann diskutierten, findet sich auch in den heutigen Diskussionen über Postwachstum und Systemalternativen.
In der Dissertation werden die drei Utopien analysiert und verglichen. Am Anfang steht dabei eine Klärung der Begriffe Opposition und Utopie. Anschließend wird die Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialgeschichte der DDR rekapituliert. Aufbauend auf dieser Schilderung der Ausgangsbedingungen erfolgt die Untersuchung der genannten drei Werke, chronologisch beginnend bei Harichs „Kommunismus ohne Wachstum?“.
Um diese Utopien verstehen zu können, werden die Biografien ihrer Autoren nachgezeichnet. Anschließend wird der Inhalt der einzelnen Bücher zusammengefasst und in den Kontext des jeweiligen Gesamtwerkes eingeordnet. Hinzu kommt eine Verortung im Rahmen der Utopiegeschichte. Schließlich wird die Rezeption der Bücher in Ost und West nachgezeichnet.
Für all diese Aspekte wurde neben Primär- und Sekundärliteratur auch auf Archivakten, vornehmlich aus dem Fundus des BStU, zurückgegriffen. Ein Großteil des hiervon verwendeten Materials wurde in anderen Veröffentlichung zum Thema bisher nicht genutzt. Es zeigt sowohl die persönlichen, teils höchst subjektiven Prägungen der einzelnen Utopien, als auch die dogmatische Perspektive der staatlichen Stellen auf.
Die drei Texte fügen sich nicht nur in die Wachstumsdiskurse der Gegenwart, sondern zugleich in die Gattungsgeschichte der politischen Utopie ein, an deren Beginn in der Neuzeit Thomas Morus mit der „Utopia“ stand. Es ist eine Gattung, die stets blühte, wenn es den Menschen schlecht ging, und die deshalb auch im 20. Jahrhundert eine sehr wechselvolle Geschichte durchlief. Spiegelten sich in den Utopien vor 1914 die Hoffnungen auf das Industriezeitalter mit Luxus für alle wider, so setzte in den zwanziger Jahren der dystopische Diskurs als Reaktion auf die vermeintlichen Realisierungsversuche utopischer Ideale in der Sowjetunion, aber auch im Faschismus, ein. Spätestens zu Beginn des Kalten Krieges fiel das gesamte Genre dann in einen Dornröschenschlaf, aus dem es erst in den sechziger Jahren im Zuge des postmateriellen Diskurses reaktiviert wurde. Diese Wiedererweckung geschah vornehmlich in den USA – aber eben kurioserweise und völlig unabhängig davon auch in der DDR, im Rahmen der drei untersuchten Texte.
Sie sind damit viel mehr als nur zeithistorische Dokumente, weshalb es ein Anliegen der Dissertation ist, diese Utopien mitsamt ihren Autoren aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten: dem der politikwissenschaftlichen Utopieforschung. Dies ist eine neue, bisher nicht dagewesene Perspektive, denn wenn diese Utopien heute überhaupt wissenschaftliche Erwähnung finden, dann bei Historikern oder Literaturwissenschaftlern. Der politikwissenschaftliche Utopiediskurs hat bisher das utopische Denken der DDR weitgehend ignoriert.
Die Texte von Bahro, Harich und Havemann werden in ihrer Eigenschaft als Utopien begriffen. Damit ergibt sich auch nach über zwanzig Jahren DDR- Aufarbeitung noch eine neue Perspektive: Die Herangehensweise ist somit methodisch fernab der bisherigen DDR-Aufarbeitung und umgeht auf diese Weise auch das Risiko einer ideologisch einseitigen bzw. verkürzten Perspektive auf die DDR.
Als Zielgruppe der Arbeit werden vor diesem Hintergrund nicht nur Historiker und Weggefährten der drei Autoren betrachtet, sondern auch Politikwissenschaftler und Utopieforscher.
Die Arbeit stellt ein Dissertationsprojekt am politikwissenschaftlichen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg dar und wurde als solches im Jahr 2006 dort angemeldet. Gutachter sind der Utopieforscher Prof. Richard Saage (zugleich Betreuer) und der Philosoph Prof. Matthias Kaufmann. Das Manuskript wurde im März eingereicht und das Promotionsverfahren kurz darauf eröffnet. Im Laufe des Jahres 2013 wird die Arbeit verteidigt und anschließend als Buch veröffentlicht.