in: Perspektiven DS, 2/2016, S. 178–186
Im deutschen Sprachraum wird der Begriff Utopie eher abwertend verwendet. Man diskreditiert damit unrealistisch erscheinende Vorstellungen einer anderen Gesellschaft oder abwegig klingende Technikvisionen. Für bundesdeutsche Parteien scheinen sie kein probates Mittel zum Erreichen starker, mehrheitsfähiger Wählerzahlen zu sein. Längerfristige Zukunftsaussagen in Wahlkämpfen werden gemieden. Für umfassende, geschlossene utopische Entwürfe scheinen Parteien der falsche Ort zu sein. «Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen» meinte in den 1970er Jahren der SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Dieses Credo bestimmt nach wie vor die Regierungspolitik der Berliner Republik.
Über Utopie und Programmatik
Diskussionen über Utopien unterliegen häufig dem Problem uneinheitlicher Begrifflichkeiten. Ist für Person A ein Text eine Utopie, muss er es für Person B noch längst nicht sein. Ein gutes Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Sichtweisen auf August Bebels Buch Die Frau und der Sozialismus von 1879. Es vereint politische Fernziele mit konkreter Kampfprogrammatik. Bebel hatte auf Basis existierender Entwicklungen und Tendenzen Zukunftsprognosen erstellt. Für den Utopieforscher Alexander Neupert-Doppler ist das Buch nicht einfach Literatur, «sondern ganz offensichtlich ein Aufruf zur Tat». Denn der Autor «spielt Möglichkeiten durch, entwirft motivierende Ziele, drückt Bestrebungen aus, kurz gesagt: Bebel schrieb eine durchaus politische Utopie».[1] Innerhalb der Sozialdemokratie war und ist der Utopiecharakter des Buches allerdings umstritten. Karl Kautsky verwehrte sich gegen Utopismus. Für ihn war Zukunft wissenschaftlich zu «berechnen». Bebels Die Frau und der Sozialismus definierte er deshalb von der Utopie zum Ideal um. Utopien galten schon damals im 19. Jahrhundert als Spinnerei, als Gedankenexperimente bürgerlicher Intellektueller. Die Arbeiterbewegung hingegen brauchte in Kautskys Augen keine Utopien. Die sozialdemokratische Historikerin Helga Grebing sieht das heutzutage ähnlich. Sie meint, dass es Bebel nicht um das Aufzeigen von fiktiven Zukunftsentwürfen gegangen sei, «sondern um etwas grundsätzlich Unterschiedliches zur Utopie: um die Erklärung, in welchem Ausmaß die bestehende Gesellschaft bereits Teilstücke der neuen Gesellschaft enthielt, also in der alten bereits die neue im ‹Werden› erkennbar wurde. Was noch fehlte, aber eines Tages unweigerlich kommen würde, war die politische Revolution, die den Transformationsprozess in den Sozialismus abschloss.»[2] Grebing interpretiert Utopie als Fiktion. Bebels Buch interpretiert sie nicht als Fiktion – folglich auch nicht als Utopie.
Allerdings müssen Utopien nicht automatisch Fiktionen im Sinne von Reise- oder Staatsromanen sein. Denkbar ist auch, dass sich utopische Elemente in Programmschriften ausmachen lassen. Die Frau und der Sozialismus ist ohne Zweifel eine solche Programmschrift. So, wie sich Utopien nicht auf Staatsromane begrenzen, lassen sich programmatische Schriften nicht auf Parteiprogramme reduzieren. Die Frau und der Sozialismus ist in diesem Sinne beides: eine Zukunftsvision und eine Handlungsanleitung für das Hier und Jetzt. Grebing schreibt, dass Bebel mit dem Buch «die Massen des Proletariats von der real vorgegebenen Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft zu überzeugen»[3] trachtete. «Das war kein Widerspruch, sondern gehörte zusammen und offenbarte eine Menge von Möglichkeiten zur vorwegnehmenden Gestaltung der Verwirklichung des Sozialismus.»[4]
Im Kern geht es also um den Utopiebegriff, um die Definition von Utopie. Hier kann Grebing entgegnet werden, dass politische Utopien genau dies sein können: Sie greifen Gegenwartstendenzen auf und denken diese weiter. Sie können vom Geltungsanspruch her intentional sein, müssen dies aber nicht. Das alles muss auch letztlich nicht bedeuten, dass Partei- oder Wahlprogramme frei von utopischen Elementen zu sein haben. Je nach Charakter des Programms, Zielgruppen und der Wahrscheinlichkeit von Regierungsbeteiligungen enthalten auch solche Papiere Zukunftsentwürfe und -visionen, die in mehrerlei Hinsicht utopische Inhalte transportieren: Erstens können sie selbst abstrakte Fern- respektive konkrete Nahziele formulieren. Zweitens können sie Forderungen enthalten, die in der Utopiegeschichte vorformuliert wurden. Drittens lassen sich darin möglicherweise emanzipatorische Bestandteile entdecken, die im Sinne von Blochs intentionalem Utopiebegriff als utopisch, also mit dem Willen des progressiven Verändernwollens der Gesellschaft ausgestattet sind. Und viertens lassen sich darin im dialektischen Sinne realpolitische Ansprüche und Abgrenzungen finden, die als Negation zur pejorativen bzw. totalitarismustheoretischen Utopiekritik gelesen werden können.
Die Rede Willy Brandts auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD am 8. Mai 1949 über den demokratischen Sozialismus, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, wurde ein Jahrzehnt vor dem Godesberger Programm[5] gehalten. Der spätere Bundeskanzler versuchte, die SPD im Parteienspektrum Westdeutschlands (die Bundesrepublik wurde erst zwei Wochen später gegründet) zu verorten. Er musste dabei die Partei nach links, gegen die Kommunisten, profilieren und zugleich gegen rechte Unterstellungen verteidigen.[6] Das Land lag in Trümmern; die Folgen von zwölf Jahren Faschismus boten wenig Hoffnung. Trotzdem – oder gerade deshalb – stellte Brandt den demokratischen Sozialismus als «Volksbewegung»[7] heraus, die nicht auf das Proletariat begrenzt sei. Seine Skizzierung dieser Zukunft enthält Elemente, die man nach nüchterner Analyse als utopisch bezeichnen kann, wobei er seine Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus bewusst nicht als utopisch definierte. Er weckte jedoch Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und malte diese in Teilen aus. Das erinnert an Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie und an dessen intentionalen Utopiebegriff, auch wenn sich die beiden politisch unterschieden.
Nah- und Fernziele bei Willy Brandt und Ernst Bloch
Die Dialektik von Nah- und Fernzielen ist ein häufig gebrauchtes Motiv in Ernst Blochs utopischem Denken. Auch Brandt gebraucht diese Zweiteilung in seiner Berliner Rede, indem er die Nahziele mit Wahlprogrammen kontextualisierte und die Fernziele Grundsatzprogrammen zuordnete. Bloch und Brandt gehörten politisch jedoch zu unterschiedlichen Lagern: Der Hoffnungsphilosoph verstand sich als Marxist und Revolutionär. Seiner Meinung nach sollte sich Philosophie an der Praxis orientieren, handlungsleitend und progressiv sein. Bloch war kein Freund der Sozialdemokratie, im Gegenteil. Ihr warf er vor, den Kapitalismus nicht überwinden zu wollen, sondern nur dessen Status Quo zu verwalten. Ganz anders Willy Brandt, der in der Sozialdemokratie einen Machtfaktor sah, mit dem man die Praxis verändern könne. Ihm galt das reale Erreichen kleiner Ziele mehr als die Formulierung schöner Theorien. Damit folge Brandt eher dem marxistischen Bilderverbot als der Marxist Bloch, welcher utopisches Träumen für unabdingbar hielt.
Bloch sah die Kategorie Utopie als progressive Funktion, die im Hier und Jetzt und dabei zwischen den Polen des Alles und Nichts verankert sei. Sie müsse erarbeitet, freigelegt werden. In seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, entstanden in den 1940er Jahren im US-Exil, schrieb Bloch, dass der Weg des Sozialismus «die Praxis der konkreten Utopie» sei. Hier stelle der Marxismus den Wegweiser dar. Entscheidend sei, dass Theorie und Praxis nicht losgelöst voneinander agieren, denn «Wirkliche Praxis kann keinen Schritt tun, ohne sich ökonomisch und philosophisch bei der Theorie erkundigt zu haben, der fortschreitenden.»[8] Das heißt, dass auch die Theorie sich weiterentwickeln müsse, aus Fehlern lernen, Korrekturen vornehmen. In der DDR war dies nicht der Fall, weshalb Bloch die dortige Ideologie des Marxismus-Leninismus nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1961 öffentlich kritisierte.[9]
Im postum 1980 erschienen Buch Abschied von der Utopie setzte sich Bloch explizit mit der Dialektik von Nah- und Fernzielen auseinander. Er kritisierte sowohl die Politiker, die nur auf programmatischen Dogmen beharren, als auch jene, die meinen, ohne Fernziele auskommen zu können, denn «so ist das Fernziel selbstverständlich, wenn es nicht vermittelt ist – theoretisch durch Nahziele und praktisch durch Arbeit in des Teufels Wirtshaus unserer Umgebung – null und nichtig, ein bloßer Schmarrn in abstraktester Ferne, die nicht einmal abstrakt ist und nicht zu fassen ist. Aber wenn das Nahziel oder die Nahziele das Fernziel nicht in sich impliziert enthalten, so sind sie zwar nicht null und nichtig, aber nicht einmal Nahziele. Es gibt keine Stufen, es gibt keine Sprossen außerhalb und unabhängig von einer Leiter.»[10] Utopisch Vorgedachtes könne nicht durch Warten, sondern nur durch Taten real werden. Deshalb werde eine neue Philosophie benötigt, eine konkrete, nach vorn gerichtete.
Ohne Utopien, ohne Fernziele fehle in der Politik der Motor, was man an der SPD sehen könne. Erst ein Fernziel verhindere Resignation und Nihilismus. Erst ein Fernziel mache die Politik interessant, statt Verdruss zu erzeugen.[11]
Dass ein solches Zielstecken nicht ohne Risiken ist, erkannte auch Bloch. Die Nah-Antizipation gehe schließlich davon aus, dass das Erwünschte im eigenen Leben noch persönlich erfahrbar wird. Dies habe den Vorteil, dass dabei keine lebenden Generationen für spätere geopfert werden. Dem steht die Fern-Antizipation gegenüber, bei der das «Himmelreich auf Erden» als fixer Orientierungspunkt gegen Verirrungen auf dem Wege schützt, wie sie etwa die SPD beschritten habe.[12] Diese hoffe, so Bloch, seit 1914 darauf, dass sich der Kapitalismus «ohne Nachhilfe […] sein Grab»[13] selbst schaufelt. Er sprach sich gegen dieses von ihm konstatierte kontemplative Vertrauen der Sozialdemokratie in den dialektischen Gang der Geschichte hin zum Sozialismus aus, in welchem Revolutionen überflüssig und die menschliche Tat bei der Überwindung des Kapitalismus nicht nötig wären.[14] Demokratischer Sozialismus ließe sich in Blochs Augen auf diese SPD-Weise nie zu erreichen. Vielmehr sei nötig, eine «Einheit zwischen Nah- und Fernzielen herzustellen, humane Einheit herzustellen, eine Realität, die zwei Forderungen entspricht: Sozialismus und Demokratie, die ohnehin sich nahe beistehen können, per definitionem, wenn es so weit wäre, daß der Sozialismus anfinge zu beginnen.»[15]
Willy Brandt bezog sich in seiner Berliner Rede gleichfalls auf die Dialektik von Nah- und Fernzielen. Im Unterschied zu Bloch hielt er sie aber für kompatibel mit sozialdemokratischer Politik. In Grundsatzprogrammen sah er den Ort für Fernziele. In Wahlprogrammen hingegen gehe es um Nahziele, um möglichst sehr konkrete Handlungsanleitungen.[16] Auch bei Brandt findet sich eine Verknüpfung dieser Ebenen, wenngleich bei ihm die Praxis vor aller Theorie steht. Ähnlich wie Bloch sieht er das Subjekt als entscheidend für gesellschaftlichen Fortschritt an. Für Brandt benötigt dieses aber keine große Erzählung, keine Utopie mehr: «Für die sich formierende Arbeiterbewegung mag das Prophetische neben der realen Forschung ein bedeutender Impuls gewesen sein. Unsere Generation muß sich auf den mit nüchternem Wissen verbundenen unbeugsamen Willen stützen.»[17] Der demokratische Sozialismus blieb für Brandt zwar das Fernziel. Also solches sah er es aber als eine Sache für Debatten um das Grundsatzprogramm an. Die politischen Nahziele sollten bestenfalls damit korrelieren und hatten für ihn Vorrang.[18]
Seine in der Rede entworfene Theorie von Nah- und Fernzielen untermauert Brandt dennoch mit programmatischen Forderungen, die nach Zukunftsvisionen klingen. So äußerte er im Hinblick auf die Ökonomie den Wunsch nach einer «zentralen Wirtschaftslenkung», denn die SPD habe «kein Vertrauen zur ordnenden Kraft des freien Marktes»[19]. Eine Demokratisierung der Wirtschaft sei nötig, aber keine Gleichmacherei und Strukturlosigkeit der Gesellschaft. «Sozialismus bedeutet mehr als Sozialisierung, aber es wird kaum eine erfolgreiche sozialistische Planung ohne einen bedeutenden sozialisierten Sektor geben. Seine exakte Größe läßt sich nicht vorweg bestimmen. Sie wird auch nicht für allemal festliegen.» Ein fast schon utopisches Bild malt er nachfolgend für die zukünftige Ökonomie der Bundesrepublik aus, in der Folgendes vergesellschaftet werden soll: «die Betriebe des Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung, die Versorgungswirtschaft, die Schwerchemie und andere Großbetriebe […]. Straffe soziale Planung der öffentlichen Hand fordern wir auch in bezug auf die Wohnungswirtschaft und auf dem Gebiet der Geld- und Kreditversorgung sowie des Versicherungswesens. Was die Betriebsformen angeht, so rechnen wir mit einer reichen Skala vom Bundes-, Landes- und Gemeindebesitz bis zu gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen, aber bei ganz besonderer Förderung des genossenschaftlichen und sozialgewerkschaftlichen Gedankens.»[20]
Utopisch anmutende Forderungen und konkrete programmatische Konzepte fallen hier zusammen. Man benötige solche Pläne für den Fall, dass man einen Wahlsieg erringt, so Brandt. Denn dann könne man sofort mit deren Umsetzung beginnen und müsse nicht erst mit den Diskussionen beginnen. Auch das Themenfeld Arbeit, eine zentrale Kategorie nahezu jeder politischen Utopie, wird von ihm ziemlich konkret ausgemalt. Das Ziel müsse Vollbeschäftigung sein. Um diese zu erreichen, plädierte er für «R a h m e n planung» und forderte «keine Aufhebung des Marktes». Eine Zentralplanung wie in der DDR lehnte Brandt ab.[21]
Vieles von dem, was der Marxist Bloch und der Sozialdemokrat Brandt über Nah- und Fernziele reflektieren, findet sich bereits in der älteren Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung. Mit ihrem Erstarken stellte sich ab einem gewissen Zeitpunkt ernsthaft die Machtfrage. Damit setzten Diskussionen über folgende Fragen sein: Lassen sich die sozialistischen Ziele auf parlamentarischem Wege umsetzen? Wenn ja, in Opposition oder Regierungsverantwortung? Benötigt man Nah- und Fernziele? Und wenn, wie sollte deren Gewichtung und Verhältnis aussehen? Legt man ein starres Ziel fest und verweigert jeglichen Kompromiss, der damit nicht kompatibel zu sein schein? Oder verzichtet man am Ende ganz auf Fernziele und hält den Weg für das Ziel?
Nah- und Fernziele wurden schon damals diskutiert.[22] Im Erfurter Programm der SPD von 1891 sind sowohl das Fernziel Sozialismus als auch die Orientierung auf konkrete, praktische Veränderung der Gesellschaft verankert. Schon hier wurden neben dem Proletariat auch andere soziale Schichten als Zielgruppen benannt, sah Karl Kautsky die SPD auf bestem Wege zur «Volkspartei». Die Frage stellte sich, wie dieses Ziel erreicht und der Sozialismus Realität werden könnte. Willy Brandt ging in seiner Berliner Rede auf die historischen Programme der Sozialdemokratie ein und legte sie den «Jungen und Neuen» in der SPD ans Herz, denn «Neu orientieren in der Landschaft kann sich nur, wer Boden unter den Füßen hat.» Er ging auch auf die «utopistischen» Wurzeln der Bewegung ein, die «übrigens nicht immer zu recht» so genannt worden seien.[23] Jedoch wurde gegen diese Zukunftserwartungen «von oben» ein «Bilderverbot» durchgesetzt, was in den Augen Brandts bisher keinen Erfolg gebracht hat: «In der älteren sozialistischen Programmliteratur wird häufig vor dem Spintisieren über den Zukunftsstaat gewarnt. Kautsky schrieb in seinem Kommentar zum Erfurter Programm, über die Formen einer sozialistischen Wirtschaft sollten sich ‹die Kinder und die Kindeskinder› den Kopf zerbrechen. Nun, die Kinder, von Kautsky aus gesehen, haben leider weitgehend versagt. Es ist an uns, die sozialistischen Wirtschaftsgedanken zu konkretisieren.»[24] Damit wich Brandt von der Utopieverneinung Kautskys ab und stellte dessen vermeintlich wissenschaftlicher Gewissheit über das historische Erreichen des Sozialismus eine Mischung aus Zielen und Tat entgegen.
Utopie und Realsozialismus
Willy Brandt ging in seiner Berliner Rede auf Distanz zum Stalinismus. Für ihn war dies kein sozialistisches Ideal, im Gegenteil. Der Stalinismus ordnete den Einzelnen einem höheren Zweck unter. Dem verkündeten Aufbau des Kommunismus fielen Millionen Menschen zum Opfer. Frühestens mit dem vollendeten Kommunismus sollte das «Reich der Freiheit» eröffnet werden, das diese Opfer am Ende rechtfertige. Gegen diese ersatzreligiöse Heilserwartung setzte Brandt eine anthropozentrische Sozialismusvorstellung: «D e r M e n s c h steht im Mittelpunkt jenes Systems von Vorstellungen über eine Neugestaltung der gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Verhältnisse, die wir demokratischen Sozialismus nennen.»[25] Brandt grenzte sich und die SPD in seiner Rede von Gesellschaftsvorstellungen ab, «die sich zwar sozialistisch nennen, mit denen wir aber nicht in einem Atemzug genannt, geschweige denn identifiziert werden wollen»[26]. Er suchte nach einem Sozialismus, der Freiheit und Ordnung synthetisiert. Dogmatismus und Ideologie lehnte er ab, da sie nicht flexibel genug für den Pragmatismus und die realen Notwendigkeiten von Politik seien. Stattdessen plädierte er für eine «radikale» Analyse des Bestehenden, aus der man dann politische Konsequenzen zu ziehen habe.
Brandt betonte gegen den Stalinismus und gegen antikommunistische Kritik die freiheitlich-emanzipatorischen Elemente bei Marx und der frühen Arbeiterbewegung: «Es ist jedoch ein ausgemachter Blödsinn, wenn man mit der Behauptung krebsen geht, Karl Marx habe den K l a s s e n k a m p f erfunden. Er hat sich im Gegenteil bemüht, Wege zu seiner Überwindung aufzuzeigen. Unsinn ist es auch, wenn man mit Hinweisen auf die Frühzeit der Arbeiterbewegung einen Gegensatz zwischen Sozialismus und Freiheit konstruieren will. Der Mensch stand auch damals im Mittelpunkt der sozialistischen Theorie. Die Freiheit der Persönlichkeit und alles andere, was von den Totalitären heute mit Füßen getreten wird, gehört sozusagen zur sozialistischen Erbmasse.» Die Arbeiterbewegung habe schon für Demokratie gestritten, als die Konservativen diese noch bekämpften: «Die Sozialdemokratie August Bebels mußte der demokratischen Mitbestimmung in unserem Lande in harten Wahlrechtskämpfen den Weg ebnen. Es ging um den Freiheitsanspruch der Vielen gegenüber den Vorrechten der Wenigen.»[27]
Im Unterschied zu bevormundenden, autoritären Staat des realexistierenden Sozialismus werde das Individuum im demokratischen Sozialismus nicht machtlos einem Kollektiv gegenüberstehen, sondern die Gesellschaft mit prägen: «Das wird nur möglich sein, wenn ein immer größerer Teil der Staatsbürger nicht nur ermächtigt, sondern auch befähigt wird, an der Gestaltung der öffentlichen Dinge verantwortlich mitzuwirken. Umgekehrt soll der einzelne im Rahmen der Gesamtheit über die volle Freiheit verfügen, sein Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten – vorausgesetzt, daß es nicht auf Kosten anderer geschieht.»[28] Dieser demokratische Sozialismus sei das Gegenteil dessen, was die «Neukommunisten» in ihrem Staat errichten würden: «Bei ihnen führt der Weg von der angeblichen Diktatur des Proletariats zur Diktatur ü b e r die Arbeiterschaft ebenso wie über die anderen Klassen, er führt von der Parteidiktatur zur terroristischen, korrupten und verlogenen Cliquenherrschaft. Daraus ergibt sich die Folgerung, daß sich der demokratische Sozialismus vom diktatorischen Kommunismus nicht nur durch die Verschiedenheit der Wege und Mittel, sondern auch durch die Gegensätzlichkeit der Ziele unterscheidet.»[29] Brandt hielt beide also in Weg und Ziel für inkompatibel. Er plädierte für Pluralismus und gegen Einparteienherrschaft.
Er reklamierte für seine SPD den Alleinvertretungsanspruch auf das Erbe des Sozialismus in Deutschland. Streitereien über Revisionismus, über Reform oder Revolution gehörten zur Vergangenheit. Diesen Alleinvertretungsanspruch verband er mit einer Gesellschaftsvorstellung «auf der höheren Ebene des konstruktiven Sozialismus. Er ist freiheitlich, und er ist revolutionär, indem er den Weg nach vorn zeigt und zur Neugestaltung aufruft»[30]. Mit einer Kombination aus Theorie und Praxis versuchte Brandt, einen demokratischen Sozialismus zu umreißen. Dabei konnte er keine konkreten Aussagen treffen, denn das wäre in seinem Sinne bereits eine Stufe hin zur geistigen Bevormundung bzw. gegen das Bilderverbot.
Brauchen linke Parteien heute Utopien?
Es gibt politische Themenfelder, die in nahezu jedem utopischen Entwurf auftauchen und mittels derer man Utopien analysieren, vergleichen und historisch verorten kann. Diese Elemente lassen sich auch in Willy Brandts Rede ausmachen. Teile dieser Rede haben zudem eine Aktualität, die zugleich etwas über die Notwendigkeit von Utopien heute aussagen kann.
So äußert er sich darin über weltpolitische sowie nationale Fragen, tritt für Völkerverständigung und internationale Kooperation auf demokratischer Grundlage und gegen jeden Imperialismus ein. Der demokratische Sozialismus könne nur so herbeigeführt werden, nationale Alleingänge würden scheitern.[31] Überaus aktuell ist sein Bekenntnis zu Europäischen Einheit. Seine prognostische Aussage weist auf die Gefahren einer wirtschaftspolitisch disparitätischen, marktkonformen und unsolidarischen Europäischen Gemeinschaft hin: «Das neue Europa wird aber eine Illusion bleiben, solange ihm die Basis ausreichender wirtschaftlicher Zusammenfassung und Zusammenarbeit fehlt. Ausgehend von den ersten Ansätzen müssen für alle wichtigen Gebiete planende und lenkende Organe geschaffen und so rasch wie möglich in einem europäischen Wirtschaftsrat zusammengefaßt werden. Diese europäische Wirtschaftspolitik wird unserer Überzeugung nach, wenn sie den Interessen der breiten Massen dienen soll, von Planvorstellungen geleitet sein müssen, wie sie von den Sozialisten vertreten werden. […] Die Vereinigten Staaten von Europa werden von sozialistischem Gedankengut erfüllt sein, oder sie werden nicht sein.»[32] Eine EU-Politik, die in den Augen der Bürgerinnen und Bürger vorrangig Banken und Großkonzernen nützt, kann in Brandts Sinne nicht funktionieren und führt gegenwärtig zur Gefahr eines Zerfalls der Europäischen Union. Von einer demokratischen, sozialistischen EU-Wirtschaftspolitik sind wir heute jedoch weiter entfernt als 1949. Es fehlt aktuell auch an einer alternativen Erzählung, einer kleinen, Hoffnung machenden Utopie eines besseren Europa. Den Status Quo als alternativlos hinzustellen, wird die EU nicht retten.
Doch nicht nur in Bezug auf Europa weist Brandts Rede Aktualität auf. Zum Themenfeld Technik warnte er bereits: «Wir müssen uns wohl auch vor einem blinden Glauben an die Technik hüten. Für sie gilt, was schon in bezug auf die Bürokratie gesagt wurde. In ihr sind gewaltige Fortschritts- und Reichtumsmöglichkeiten vorhanden, aber auch Gefahren eines technokratischen Nihilismus. […] Die technische Errungenschaft wird erst dann zum Segen, wenn sie dem sozialen Fortschritt dient.»[33] In diesem Sinne äußerte er sich im Verlauf seiner Rede auch über die friedlichen Potentials sowie die gleichzeitig existierenden tödlichen Risiken der Atomkraft. Heutzutage sind neue Technologien hinzugekommen, für die ähnliches gilt. Beinahe prophetisch ist hier beispielsweise Brandts Aussage zur politischen Kultur, die in Zeiten von Social Media nichts an Brisanz eingebüßt hat. Im Gegenteil: «Die meisten Menschen leben nicht nur in wirtschaftlicher Abhängigkeit, sondern auch in einem geistigen Zwang. Sie leben in einem Zustand dauernder Angst. Zwang und Furcht können mit den Methoden der Massenpsychologie und mit Hilfe der Mittel der Massenbeeinflussung in künstliche Begeisterung verwandelt werden. Wenn diese künstliche Aufpeitschung der Gefühle zurückschlägt, treten häufig Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Vorgängen, krassester Egoismus und Negativismus an ihre Stelle. Das ist vielleicht die ernsteste Seite der moralischen Zerrüttung, von der so viel die Rede ist. Von dieser Seite her kann neuen Demagogen der Boden bereitet werden.»[34] Das Jahr 1949 grüßt 2016!
Mit dem Realsozialismus ist auch ein Teil der Utopie zugrunde gegangen: jener archistische, etatistische Ansatz kommunistischer Diktatur. Das führte in den 1990er Jahren dazu, dass von konservativer Seite das Ende aller Utopien verlautbart und gefeiert wurde. Das führte in Deutschland dazu, dass ein postideologisches, postmodernes, postdemokratisches «Post-Zeitalter» ausgerufen wurde. Die Zukunftsideale des demokratischen Sozialismus wichen den utopischen Heilsversprechen der neoliberalen Wirtschaftspolitik bzw. neoklassischen Wirtschaftstheorie. Das von Francis Fukuyama verkündete »Ende der Geschichte» gibt sich ideologiefrei, ist aber selbst utopisch – im pejorativen Sinne. Spätestens mit dem Schröder-Blair-Papier fühlte sich auch die SPD im «Post-Zeitalter» angekommen. Dieser Verzicht auf Zukunftserzählungen impliziert eine Abkehr von der Hoffnung auf Wandel und eine bessere Gesellschaft. Resignation, Wahlverluste, Mitgliederschwund sind möglicherweise auch Folge eines Verzichts auf eine solidarische Gesellschaftsvision. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies so bleiben muss. Auch hier könnte 1949 das Jahr 2016 – oder besser 2017 ff. – grüßen, mit Brandts Aussage über den demokratischen Sozialismus: „Er muß ein Ziel bleiben, für das es lohnt, das letzte einzusetzen, eine Vision, die wert ist, geträumt zu werden. Die sozialistische Bewegung muß mit beiden Beinen auf dem Boden der realen Wirklichkeit stehen. Aber sie würde rückschrittlich werden, wenn sie aufhörte, eine Ideenbewegung zu sein.»[35] Ob sie heutzutage allerdings noch eine Parteienbewegung sein muss, das liegt zu einem bestimmten Teil in der Hand der Parteien selbst.
[1] Alexander Neupert-Doppler: Utopie. Vom Roman zur Denkfigur. Stuttgart 2015, S. 47 f. [2] Helga Grebing: Die deutsche Arbeiterbewegung brauchte keine Utopien. Versuch einer Umorientierung. In: Alexander Amberger, Thomas Möbius (Hrsg.): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Wiesbaden 2017, S.195–206, S. 197. [3] Grebing 2017, S. 199. [4] Grebing 2017. S. 201. [5] Vgl. zur SPD in dieser Zeit Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 11. Auflage, München 1981, S. 234–252. [6] Brandt wies Vorwürfe zurück, dass die SPD vorhätte «die Frauen zu sozialisieren und dem Bauern die letzte Kuh aus dem Stall zu holen». Willy Brandt: Programmatische Grundlagen des demokratischen Sozialismus. Rede des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin, Brandt, auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949. In: Ders.: Berliner Ausgabe, Band 4. Bonn 2000, S. 99–130. [7] «Da wir von einer Identität der Interessen der übergroßen Mehrheit in den großen Dingen ausgehen, wäre es unsinnig, den demokratischen Sozialismus als enge Klassenbewegung abstempeln zu wollen. Er ist längst zu mehr als einer Klassenangelegenheit geworden und hat nur dann die Zukunft für sich, wenn er zur V o l k s b e w e g u n g wird.» Brandt, S. 108. [8] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände, Frankfurt am Main 1973, S. 322. [9] Während seines Aufenthaltes in der DDR von 1949–1961 hielt sich Bloch mit öffentlicher Kritik am System zurück. Vgl. dazu Alexander Amberger, Andreas Heyer: Theorie und Praxis. Blochs Verständnis des Marxismus 1949–1961. In: Hans-Ernst Schiller (Hrsg.): Staat und Politik bei Ernst Bloch. Baden-Baden 2016, S. 107–126. [10] Ernst Bloch: Abschied von der Utopie? Frankfurt am Main 1980, S. 71 f. [11] Vgl. Bloch 1980, S. 75 ff. [12] Vgl. Bloch 1980, S. 111 ff. [13] Bloch 1980, S. 145. [14] Vgl. Bloch 1980, S. 152. [15] Bloch 1980, S. 114 f. [16] Vgl. Brandt, S. 101. [17] Brandt, S. 110. [18] Vgl. Brandt, S. 130. [19] Brandt, S. 118. [20] Brandt, S. 121 f. [21] Vgl. Brandt, S. 122 f. [22] Vgl. u.a. Grebing 1981; Ralf Hoffrogge: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland von den Anfängen bis 1914. Stuttgart 2011. [23] Brandt, S. 103. [24] Brandt, S. 113. [25] Brandt, S. 99. [26] Brandt, S. 101. [27] Brandt, S. 104. [28] Brandt, S. 115. [29] Brandt, S. 115. [30] Brandt, S. 124. [31] Vgl. Brandt, S. 105 f. [32] Brandt, S. 126 f. [33] Brandt, S. 113. [34] Brandt, S. 128. [35] Brandt, S. 129.