Kampf dem neoliberalen Lügennetz

Attac-Aktivist Michel Husson stellt die Systemfrage und fordert radikales Umdenken

Rezension von:
Michel Husson: Kapitalismus pur. Deregulierung, Finanzkrise und weltweite Rezession. Eine marxistische Analyse, Neuer ISP Verlag, Köln 2009, 200 Seiten, 19,80 Euro.
zuerst veröffentlicht in: neues deutschland vom 18.11.2009
 
Mindestlohn und Druck von unten – das sind nur zwei Vorschläge aus Michel Hussons neuem Buch, die helfen sollen, den Kapitalismus endgültig zu überwinden. 

Bücher über die Krise haben in der Krise Konjunktur. Nicht nur der originäre Marx erlebt dabei eine Renaissance, sondern die marxistische Theorie als Ganzes gewinnt wieder an Bedeutung. Eines dieser aktuellen Bücher heißt »Kapitalismus pur« und stammt vom französischen Attac-Aktivisten Michel Husson. Darin finden sich Texte des Autors aus den vergangenen Jahren, die aktualisiert und zusammengefügt wurden. Daraus ergibt sich auch schon das Hauptmanko von »Kapitalismus pur«: Es wirkt fragmentarisch. Man vermisst eine stringente Argumentationsführung und einige Politikfelder. Dadurch wirkt es teilweise widersprüchlich. Trotzdem ist man am Ende schlauer, was die Ursachen und Auswirkungen der aktuellen Krise betrifft, und je länger man das Gelesene wirken lässt, desto mehr entfaltet es seine Argumentationskraft.
Husson meint, dass ein strategisches Mittel gegen den Kapitalismus die Entwicklung von Gegenexpertisen zu den Lügen der neoliberalen Ideologen sein müsse. Deren Überlegenheit könne aber nur aufgebrochen werden, wenn die Gegendarstellungen einerseits über wissenschaftliche Qualität verfügen und andererseits auch für große Teile der Bevölkerung verständlich sind. Misst man sein Buch an diesem Anspruch, so muss leider festgestellt werden, dass er diesen Spagat nicht geschafft hat. Zwar widerlegt er viele neoliberale Dogmen, die sich im Alltagsdenken verfestigt haben, aber vieles ist zu akademisch formuliert.
Nach Ansicht des Autors handelt es sich beim Finanzmarkt nicht um eine eigenständige kapitalistische Formation, sondern um einen tragenden Eckpfeiler und Bestandteil des Kapitalismus. Der Finanzsektor interagiere mit der Realwirtschaft, habe aber ein Übergewicht erhalten. Zentrale These ist dabei, dass die Unternehmensprofite durch die Produktivitätszuwächse seit Beginn der neoliberalen Ära Anfang der 1980er Jahre anders verteilt wurden: Bis dahin dienten die Gewinne primär dazu, die Löhne zu erhöhen und Investitionen zu tätigen. Inzwischen werde aber der Profit als Dividende an die Aktionäre ausgezahlt, worunter Löhne und Investitionen sowie nicht zuletzt auch die Binnennachfrage und die Produktivität zu leiden hätten. Doch der »Shareholder-Value« als zentraler Faktor der neoliberalen Systemlogik lasse für das Kapital keine anderen Wege zu. Damit würden sich die kapitalistischen Widersprüche global zuspitzen.
Laut Husson steckt der Kapitalismus in einer Sackgasse, die gegenwärtige Krise zeige diese Ausweglosigkeit deutlich. Diesem Szenario stellt er eine Alternative entgegen, die in ihrer Radikalität die Realpolitik weit hinter sich lässt, aber zugleich Wert auf Umsetzbarkeit und Massenakzeptanz legt: Er plädiert für Vollbeschäftigung bei gleichzeitiger Arbeitszeitsenkung, für einen Mindestlohn von 1500 Euro, für Verstaatlichung der Banken ohne Entschädigung. Er fordert, Profite für Lohnerhöhungen und neue Arbeitsplätze statt für Dividenden zu verwenden. Finanziert werden soll dies alles durch Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung, die nach Hussons Modell obsolet würde, und durch eine hohe Besteuerung von Vermögen. Da das Kapital diesen Maßnahmen nicht freiwillig zustimmen werde, sei Druck von unten, sei eine Massenbewegung nötig. Darauf hofft Husson weiter.