Bruderkrieg in Gotha: Die Verteidigung der Demokratie im März 1920

Interview mit Judy Slivi zu ihrem Buch „Bruderkrieg in Gotha: Die Verteidigung der Demokratie im März 1920“
Erschienen in: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft 62, September 2022, S.39–43

Gotha gilt als eine Wiege der Sozialdemokratie, hier fand 1875 der Vereinigungsparteitag statt, mit dem Gothaer Programm (und Marx’ weltberühmter Kritik daran), hier wurde 1917 die USPD gegründet, 1946 fand hier der Vereinigungsparteitag der Thüringer SED statt und 2007 der zum Thüringer Landesverband der LINKEN. Für die Geschichte der Arbeiterbewegung zweifellos ein wichtiger Ort. Über den Kapp-Putsch und dessen Niederschlagung in der Stadt ist hingegen weniger bekannt. Die Gothaer Soziologin Judy Slivi hat nun einen opulenten Band vorgelegt, der die Ereignisse aus verschiedensten Blickwinkeln nachzeichnet und diskutiert. Wir haben mit ihr über das Geschehen 1920, über ihren Band sowie über die Quellen- und Archivlage gesprochen.

Alexander Amberger: Beginnen wir mit den Ereignissen vor 102 Jahren in Gotha. Die große Geschichte des Kapp-Putsches ist ja bekannt. Doch wie lief das Geschehen in Gotha ab? Welche Parteien waren relevant, wie haben sie interagiert?

Judy Slivi: Gotha hatte schon immer eine starke Arbeiterbewegung. 1917 trat nahezu die gesamte Ortsgruppe der SPD zur USPD über. Bei der Wahl zur Gothaer Landesversammlung 1919 konnte die USPD die Mehrheit der Stimmen erlangen und hatte die Landesregierung inne. Die USPD konnte so viele programmatisch für sie wichtige Punkte, wie die Trennung von Schule und Kirche, umsetzen und trat selbstbewusst auf. Das führte zum Unmut im Bürgertum. Gotha war bald als linke Hochburg „verschrien“. Als der Kapp-Putsch bekannt wurde, traten die Arbeiter in den Generalstreik und entwaffneten die in der Stadt stationierten Truppen. Als die Reichswehr unter Major Heims einmarschierte, sich zu Kapp bekannte und die demokratisch gewählte USPD-Regierung absetzen wollte, eskalierte die Lage. Es kam zu den blutigsten Kämpfen in Thüringen.

Amberger: Dein Buch enthält einen sehr umfangreichen Dokumententeil. Eines davon ist der Brief eines Arbeiters an seinen Sohn, der die Ereignisse tagesaktuell schildert. Der Mann schreibt: „Wir werden in Gotha ja doch nicht den Ausschlag geben, da die Hauptentscheidung ja doch in den großen Industriezentren spielen wird.“ Stimmt das im Nachhinein, haben die Ereignisse dort einen Ausschlag über die Region hinaus gegeben?

Slivi: Gotha allein hat natürlich keinen Ausschlag auf die reichsweiten Ereignisse gegeben. Aber für Thüringen war Gotha mit der einzigen USPD-Landesregierung ein Symbol der erfolgreichen Arbeiterbewegung. Aus dem gesamten Umland, besonders aus Süd- und Westthüringen kamen hunderte von Arbeitern Gotha zu Hilfe und kämpften gegen die Putschisten. Es ging ihnen in der Mehrzahl um den Erhalt der demokratisch gewählten USPD-Landesregierung. Die Kämpfe in Gotha machten der Reaktion in diesem Teil Thüringens klar, dass es Widerstand gab. Und die Summe der deutschlandweiten Aktionen und Kämpfe auch in mittelgroßen Städten führte zum Scheitern des Putsches in Berlin, da ist auch der Anteil der Provinz nicht zu unterschätzen.

Amberger: Der Kapp-Putsch ist gescheitert, die Arbeiterbewegung und bürgerlich-demokratische Kräfte haben damals gemeinsam die Reaktion aufhalten können. Gab es diesen Schulterschluss auch in Gotha? Wie stark waren die reaktionären Kräfte dort, und wie sah die politische Lage vor 1933 aus, waren da dieselben Reaktionäre aktiv, und auch später in der NSDAP?

Slivi: Gegen den Putsch positionierten sich neben der USPD die DDP in Gotha. Allerdings eskalierte die Situation, bevor sich die Parteien verständigen konnten. Als Vermittler trat insbesondere der Polizeiinspektor Max Gisohn auf, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Sympathisant der SPD war. Es gab keine Positionierung von Behörden oder des Bürgermeisters Karl Krug. DNVP und DVP glänzten durch Abwesenheit bzw. Unterstützung der Putschisten. Die Gothaer Zeitfreiwilligen, genannt „Sturmkompanie“, waren eindeutig reaktionär. Viele von ihnen wurden später Nationalsozialisten. Nach dem Ende der Kämpfe fuhren Vertreter der USPD und DDP zusammen nach Weimar, um einen erneuten Einmarsch von Reichswehr zu verhindern. Franz Büchel (SPD Gotha), ein Gegner der USPD-Landesregierung, machte einen Schulterschluss mit DVP und DNVP und fuhr zur Reichswehr nach Erfurt.

Amberger: Dein Buch ist so groß wie ein Telefonbuch und wiegt 2,5 kg. Du führst mit einer umfangreichen Einleitung in das Geschehen ein, den größten Teil nehmen jedoch Dokumente und Archivalien ein, die entweder abgetippt oder nachgedruckt zu finden sind. Unser Förderkreis widmet sich bekanntlich Bibliotheken und Archiven. Erzähl der Leserschaft bitte mal, welche Archive und Bibliotheken Du aufgesucht hast und was den Weg ins Buch gefunden hat.

Slivi: Den größten Teil nehmen unveröffentlichte Quellen ein, die nur in Archiven zugänglich sind. Allein die Darstellungen der sogenannten Personen- und Sachschäden aus den Tumultschadensakten beruhen auf über 60 umfangreichen Akten, die im Stadtarchiv Gotha schlecht verzeichnet waren und durch ihr Auffinden so zum ersten Mal ausgewertet werden konnten. Es gibt diese Akten in fast allen von den Kämpfen infolge des Kapp-Putsches betroffenen Städten, und sie stellen eine Fundgrube zur Rekonstruktion der Ereignisse dar. Die Akten der Staatsanwaltschaft Gotha wurden erstmals umfangreich ausgewertet. Viele der Erinnerungen der Parteiveteranen der DDR erschienen nicht gebündelt, sondern verteilt auf Zeitungen, oder sie wurden nur in Archiven gesammelt. Diese Erinnerungen befinden sich in verschiedenen Archiven, z. B. in Gotha, im Bundesarchiv, im Hauptstaatsarchiv Weimar. Manche der Erinnerungen sind in den späteren Wohnorten der Autoren, wie in Meiningen oder Rudolstadt, archiviert. Da in Gotha Arbeiter und Reichswehr/Zeitfreiwillige aus verschiedenen in der Nähe liegenden Städten kämpften, sind auch alle Stadtarchive der Herkunftsorte, wie z. B. Arnstadt, Suhl oder Eisenach oder der Standorte der Regimenter, wie Magdeburg und Erfurt, von Relevanz. Den Weg ins Buch haben alle Quellen, die neu waren, die von Hauptakteuren stammten oder die neue Sichtweisen und Aspekte einbrachten, gefunden. Wichtig waren auch Quellen, die unbedingt kommentiert werden mussten, weil sie aus politischen Gründen ein verzerrtes Bild der Ereignisse gaben. Deswegen werden auch Quellen aller Akteure, ob von Bürgerlichen oder von der Arbeiterschaft, ob politisch oder unpolitisch, behandelt.

Amberger: Die lokale und regionale Geschichte der Arbeiterbewegung wurde in der DDR häufig durch die SED oder durch Betriebs- und Hobby-Historiker erforscht. Im Buch finden sich auch die Nachdrucke solcher Forschungsergebnisse. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass der Kapp-Putsch in Gotha damals schon recht gut rekonstruiert und dokumentiert worden ist. Was unterscheidet Deinen Band von diesen vorherigen Forschungen? Was hast Du exklusiv und neu darin aufgenommen?

Slivi: Das am meisten zitierte Buch über den Kapp-Putsch in Gotha ist von Franz Hammer „Freistaat Gotha im Kapp-Putsch: Nach Dokumenten und Erinnerungen alter Mitkämpfer“ (1955). Das Buch arbeitet die Ereignisse literarisch auf. Die Darstellungen aus der DDR-Zeit befriedigen nicht, da sie weder die Schicksale der 127 Opfer behandeln, noch alle Akteure zu Wort kommen lassen. Mir war wichtig, eine Liste der Opfer zu erstellen und ihre Geschichte zu erzählen. Niemand hat in 100 Jahren auch nur versucht, das zu tun. Der Einfluss der Kommunisten oder des linken Flügels der USPD wurde in der DDR oft überhöht. Andere Strömungen der Arbeiterbewegung, wie der SPD, AAU oder auch des rechten Flügels der USPD wurden ausgeblendet. Ein Beispiel: Der Vollzugsausschuss in Gotha, der während des Kapp-Putsches gebildet wurde, bestand aus 40 Mitgliedern. Davon werden in der DDR-Literatur nur fünf genannt, die alle der KPD angehörten. Die KPD-Ortsgruppe bestand 1920 aus nur 30 Mitgliedern. Neu sind im Buch die umfangreichen biografischen Angaben und die Listen zu den Formationen der Sicherheitswehr, Zeitfreiwilligen und Arbeiterabteilungen, ebenso die Wortmeldungen der bürgerlichen Akteure.

Amberger: Ist damit jetzt zum Thema quasi „alles gesagt“, oder gibt es in den Archiven noch viel unerforschtes oder druckwertes Material?

Slivi: Ich würde nie sagen, dass bei einem historischen Thema „alles gesagt“ ist. In den Archiven gibt es mit Sicherheit noch mehr Material. Es wird deutschlandweit immer neue Funde geben. Es fehlt nach wie vor für Gotha an Grundlagenforschung zu den bürgerlichen Parteien, wie auch zu den Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung. Zum Bürgertum gibt es die Forschungen von Helge Matthiesen von 1994. Diese sollten aber in Bezug auf Flügel in den bürgerlichen Parteien, ausführlichere Forschungen zu den Politikern und zu reichsweiten und Thüringer Netzwerken ausgeweitet werden.

Amberger: Interessant fand ich die Aufstellung der Geschehnisse in vielen Dörfern des Landkreises, also die Namen der Beteiligten oder Getöteten und die Ereignisse dort. Wie bist Du zu den Daten gekommen?

Slivi: Die Informationen stammen vor allem aus den Akten der Landratsämter im Raum Gotha. Die einzelnen Ortschaften erstatteten auf Nachfrage Bericht. Ergänzungen kamen aus den Erinnerungen von verschiedenen Personen, aus den Akten der Staatsanwaltschaft Gotha oder aus Zeitungen. Kirchenchroniken könnten noch ausgewertet werden. Da diese oft schlecht zugänglich sind, musste ich darauf verzichten. Also ist hier noch nicht „alles gesagt“. Publizierte Ortschroniken behandeln die Zeit der Weimarer Republik teils sehr stiefmütterlich.

Amberger: Wozu hast Du bisher noch geforscht, was wurde publiziert? Und an welchen Forschungsprojekten sitzt Du gerade?

Slivi: Bisher sind ein Buch über „Gotha 1918 bis 1933“, eine „Gothaer Kinogeschichte 1900 bis 1933“ und verschiedene Artikel erschienen. Ich bin im Moment in der historisch-politischen Bildung tätig und habe in der Vergangenheit einige Ausstellungen konzipiert, u. a. zu den ersten Thüringer Kommunalpolitikerinnen in Arbeiterräten und Stadtparlamenten aus elf Orten (1918 bis 1933). Die Ergebnisse werde ich zeitnah publizieren. Natürlich geht auch die Erforschung der Gewerkschaften, Parteien und deren Netzwerke in Gotha und Thüringen im 19./20 Jh. weiter.

Amberger: Danke für das Gespräch.

Judy Slivi: Bruderkrieg in Gotha. Die Verteidigung der Demokratie im März 1920. 600 Seiten, Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza 2021, ISBN: 9783959666046.