Theorie und Praxis. Blochs Verständnis des Marxismus 1949–1961

Beitrag von Alexander Amberger/Andreas Heyer
in: Staat und Politik bei Ernst Bloch, herausgegeben von Prof. Dr. Hans-Ernst Schiller
Nomos Verlag 2016, ISBN 978-3-8487-3365-1, S. 107–126

Die Aufsätze dieses Bandes untersuchen Grundbegriffe des Politischen bei Ernst Bloch, seine publizistischen Eingriffe sowie mögliche Perspektiven. Insgesamt bezeugen sie die Vielzahl der Denkanstöße, die Bloch der politischen Philosophie gegeben hat. Den modernen Staat sieht Bloch, ohne eine Staatsheorie im eigentlichen Sinne auszuführen, unter der utopischen Perspektive einer Aufhebung der politischen Gewalt. Erst in einer klassenlosen Gesellschaft werden die Probleme der menschlichen Existenz und der Philosophie einer expressiven Lösung entgegengetrieben werden können. Von dieser Utopie aus erhalten die Menschenrechte eine positive, über den Staat hinausweisende „naturrechtliche“ Bedeutung. Sie werden zu Wegweisern in eine soziale Ordnung, deren einziger Inhalt die Freiheit einer Selbstverwirklichung ist, die das Privateigentum hinter sich gelassen hat. Sozialismus wird in diesem Horizont zur Vollendung der bürgerlichen Revolutionen, deren demokratische Errungenschaften er voraussetzt.

Das Werk ist Teil der Reihe Staatsverständnisse, Band 91.

LESEPROBE:

1. Utopie, Freiheit und Staat bei Ernst Bloch
Das Spannungs- und Definitionsfeld zwischen den Begriffen Freiheit und Staat ist innerhalb des utopischen Denkens und der Utopiegeschichte ein zentraler und zu- gleich produktiver Widerspruch. Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv/Staat, die Freiheit des Einzelnen oder dessen (un)freiwillige Unterordnung unter einen Gemeinschaftswillen bzw. einen Leviathan, wird gespiegelt in der Freiheit des Kollektivs gegen das Partikularinteresse einzelner Individuen. Erst im Kommunismus, so Marx und Engels 1848, werde „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesell- schaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen (…) eine Assoziation (treten,) worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“
Bloch verstand sich als Marxist. Sein utopisches Hoffnungsdenken orientierte sich an der und zielte auf die Verwirklichung des Kommunismus. Die Begriffe Staat, Utopie und Freiheit korrelieren in seiner Les- und Denkart mit Ansätzen anderer Marxisten – stehen aber auf Grund der Vielfältigkeit sozialistischen Denkens und Handelns nicht im Einklang mit allen kommunistischen bzw. linken Denkschulen. Der Realsozialismus, konkret die DDR und die 12 Jahre, die Bloch in ihr verbrachte, zeigen dies exemplarisch. Schien er zunächst (wider die Erwartungen einiger Beobachter) in der frühen DDR Fuß zu fassen und sogar Karriere zu machen, so änderte sich dieses Bild mit dem Wandel der politischen Großwetterlage 1956. Dieser Bruch ging nicht spurlos an Blochs Hoffnungsphilosophie vorbei, und er entzog schrittweise der DDR und dem Realsozialismus die Zuschreibung, etwas mit seinem utopischen Ideal zu tun zu haben.
Doch was machte dieses Ideal aus? Was verstand Bloch unter Utopie und inwiefern hat er sie mit der DDR kontextualisiert? Kritiker werfen Bloch vor, den Utopiebegriff entgrenzt und auf ein revolutionär-transformatorisches Moment reduziert zu haben, so „dass am Ende nur noch die utopische Intention ohne spezifische Inhalte übrig blieb“. Dem ist insofern zuzustimmen, als es Bloch bei der Utopie stets um mehr als eine Erforschung oder Historisierung der Gattung ging. Er setzte vielmehr seine Hoffnungen auf die Herbeiführung einer besseren Welt in sie. Es ist ja kein Zufall, dass seine Hauptwerke zu diesem Thema, also Geist der Utopie und Das Prinzip Hoffnung, vor dem finsteren Hintergrund des Ersten bzw. Zweiten Weltkrieges entstanden sind. Kritische Zeitgenossen verbinden einen solchen Zugang möglicherweise und nicht völlig zu Unrecht mit einer gewissen Naivität oder gar mit Eskapismus. Das lässt sich auch an Bloch ablesen. Mehrmals wurde sein utopisches Vertrauen enttäuscht, entpuppte sich sein Hoffen als naiv. Beispielhaft hierfür ist seine zeitgenössische Rechtfertigung der Moskauer Schauprozesse, der ja bereits in Geist der Utopie – in der zweiten Auflage – Hoffnungen und Erwartungen auf die Russische Oktoberrevolution vorausgingen. Später sollte sich dies in Bezug auf die DDR wiederholen. 

Die Vollversion des Aufsatzes kann momentan nur in der Buchausgabe des Sammelbandes erworben werden.