Ökologisch-utopischer Marxismus in der DDR

Eine Untersuchung von DDR-Beiträgen zu Systemkritik und politischer Utopie

Rezension von Volker Gransow bei KULTURATION. Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik

Spätestens seit dem „System der induktiven und deduktiven Logik“ (1886, von John Stewart Mill) sollte deutlich sein, dass der sozialwissenschaftliche Vergleich im Kern eine methodische Kombination von Konkordanz und Differenz darstellt. Die komparatistische Fachliteratur zeigt, dass die eigentliche analytische Kunst darin besteht, neben einem „tertium comparationis“ sowohl für Gemeinsamkeiten als auch für Unterschiede geeignete Gegenstände aufzuspüren. Dies ist Alexander Amberger mit dem vorliegenden Text hervorragend gelungen, sowohl von Zeit und Ort als auch von den Akteuren her. Die Zeit ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (besonders dessen siebziger Jahre), der Ort die DDR, die Akteure sind drei marxistische Intellektuelle, die als (vermeintliche?) Dissidenten oder Oppositionelle scharfen Repressionen der marxistisch-leninistischen Machthaber ausgesetzt waren.

Es sind dies Wolfgang Harich (1923 – 1995), Rudolf Bahro (1935 – 1997) und Robert Havemann (1910 – 1982). Jedem ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Diese Kapitel sind parallel strukturiert. Zunächst geht es um Leben und Werk, dann um den jeweiligen ökologisch-utopischen Haupttext sowie um dessen Rezeption in Ost und West. Eine Einleitung und Schlussbemerkungen stellen den methodologischen und zeitgeschichtlichen Kontext her: das jeweilige Gesamtwerk und dessen ökologisch – utopische Komponente unter den Bedingungen der DDR in der Ära Honecker. Vorher wird jedoch der Begriff der politischen Utopie ebenso erörtert wie der von Dennis Meadows 1972 präsentierte Bericht an den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums und der ihm folgende „postmaterielle Diskurs“ von ökologischen, feministischen und anderen „neuen sozialen Bewegungen“.

Wolfgang Harich war bereits ein bekannter ostdeutscher Philosoph und Publizist, als er sich zu diesen Themen äußerte. Er war Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, wo er auch maßgeblich an einer Hegel-Debatte mit antistalinistischer Stoßrichtung und einer „Freiheitskonferenz“ mit Ernst Bloch und Agnes Heller beteiligt war. 1956 hatte er nach Diskussionen mit dem Verleger Walter Janka, weiteren Mitarbeitern des Aufbau – Verlags und dem Politiker Paul Merker ein Thesenpapier („Plattform“) verfasst. Darin forderte er eine Demokratisierung der Staatspartei SED, die Herstellung von Geistesfreiheit, Arbeiterräte, freie Wahlen und deutsche Einheit. Andererseits wollte er an den sozialistischen Eigentumsverhältnissen und Einheitslisten festhalten. Gleichzeitig verlangte er die Ablösung von Parteichef Ulbricht und einen Bruch mit dem Stalinismus. Die Antwort war 1957 ein Schauprozeß mit Harich als Hauptangeklagtem. Er bekam zehn Jahre Haft, von denen er sieben absitzen mußte. Juristisch rehabiliert wurde er erst kurz vor dem Ende der DDR 1990, konnte jedoch schon lange vorher (teilweise) in Ostdeutschland wieder forschen und publizieren.

In den ökologischen Gegenwartsdiskurs trat er mit dem Buch „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘ “ ein, das er 1975 im westdeutschen Rowohlt – Verlag veröffentlichte. Es handelt sich um Interviews mit dem bundesdeutschen Lektor und Politiker Freimut Duve. Zum Untertitel: Francois – Noel Babeuf hatte nach der französischen Revolution eine radikal etatistische sozialistische Gleichheitskonzeption entwickelt. 180 Jahre später passte Harich diese Forderungen der ökologischen Krise und dem Nord-Süd-Hungerproblem an. Harich zufolge müßte der Übergang zum Kommunismus durch einen streng archistischen Zuteilungsstaat erfolgen. Nur dieser asketische Staat sei in der Lage, die ökologischen und distributiven Probleme zu lösen. Im ersten Interview „Dialektischer Materialismus und Ökologie“ beklagte er, dass die Frankfurter Schule den Marxismus auf Gesellschaftsfragen beschränke und seine Potentiale in Richtung Ökologie nicht auslote. Im zweiten Interview „Marx und Malthus“ verabschiedete er Vorstellungen von einem Überfluss-Kommunismus. Weitere Gespräche galten dem Klassencharakter des Club of Rome, einer „asketischen Variante“ des Kommunismus und der „progressiven politischen Systemstruktur“ der realsozialistischen Staaten. Das letzte Interview konnte infolge einer Herzattacke Harichs nicht mehr geführt werden. Stattdessen wurden Briefe an Duve abgedruckt, in denen Harich mit Havemann und Sacharow polemisiert und die autoritäre Struktur des Realsozialismus begrüßt. Dennoch meint Amberger, das Etikett „Ökostalinist“ sei falsch, denn Harichs „Ökoleninismus“ wolle „ohne willkürlichen Terror“ auskommen (S. 83). Utopiegeschichtlich verortet der Verfasser Harich als klassischen archistischen Utopisten und deutet den Text antihedonistisch mit der Zielstellung eines kommunistischen Matriarchats. Er betont einerseits Harichs „wertkonservative“ Gemeinsamkeiten mit Arnold Gehlen, weist aber auch auf spätere Anzeichen eines Bruchs mit der Ökodiktatur hin. In einer Skizze der Rezeption im östlichen Umfeld vermeldet Amberger weitgehende Ignoranz (außer im Ministerium für Staatssicherheit). In der westlichen Rezeption hingegen sei der utopische Gehalt „kaum zur Sprache“ gekommen (S. 117m.)

Rudolf Bahro war trotz zeitweilig ähnlicher Forschungsfragen von Harich wohl eher wenig beeindruckt. Als Student an der Humboldt – Universität in den fünfziger Jahren und danach war sein „skeptischer Lehrer“ vielmehr Wolfgang Heise (S.144). Er lehnte Harichs „abscheuliche Idee einer hyperbürokratischen Weltregierung“ vehement ab (S. 176). Bahro war zunächst ein begeisterter Anhänger von SED und DDR und brachte es bis zum stellvertretenden Chefredakteur der Studentenzeitschrift „Forum“. Als er dort den Abdruck eines kritischen Theaterstücks genehmigte verlor, er den Job und wurde zum soziologischen Mitarbeiter eines Ost-Berliner Ingenieurbüros „degradiert“. Freilich konnte er hier unverdächtig und unbehelligt wissenschaftlich arbeiten. Die Intervention in die CSSR 1968 motivierte ihn schließlich zum Verfassen der „Alternative“. 1977 erschien dann dieser Text „Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ in Köln und Frankfurt am Main. Das voluminöse Werk besteht aus drei Teilen: erstens einer Beschreibung des Realsozialismus, zweitens seiner Analyse und drittens der Skizze einer utopisch-kommunistischen Alternative. Wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit und Geheimnisverrat wurde er 1978 zu acht Jahren Haft verurteilt. Er kam jedoch nach einem Jahr frei und wurde 1979 in die Bundesrepublik entlassen. Schon bald engagierte er sich dort in der grünen Bewegung. Nach der Umwälzung in der DDR 1989/90 und der deutschen Vereinigung sah er er seinen Lebensmittelpunkt am „Institut für Sozialökologie“ der Humboldt-Universität.

Zentral für „Die Alternative“ war das Konzept der asiatischen Prouktionsweise, dessen Protagonisten Karl August Wittfogel (Autor der „orientalische Despotie“) er jedoch nicht als Quelle aufdecken wollte. Dies „orientalische“ Knechtschaftsverhältnis zwischen Bevölkerung und Staat zogen Wittfogel bzw. Bahro maßgeblich zur Erklärung des Realsozialismus heran, der dann mit einer utopischen Überwindungsstrategie konfrontiert wurde. Primäres Ziel der Utopie sollte eine Kulturrevolution sein, die Menschen würden in Kommunen leben, die dem Individuum ein höheres Selbstwertgefühl und dem Kollektiv einen Gewinn an Gemeinwohl einbringen würden. Das Assoziationsprinzip ist die Grundlage für einen Gesellschaftsentwurf in allen Gliederungen von der Kommune bis zur Weltordnung. Auch Bahros Gedanken zu Entwicklungshilfe und Stadtplanung weisen klare Bezüge zur Utopiegeschichte auf. Desgleichen gilt für Bahros Utopie das „Primat der Ökologie“ (Saage, vgl. S. 164). Amberger zufolge ist Bahros Utopie weder idealtypisch anarchistisch noch archistisch, sondern stellt eine Mischform mit einer Tendenz zum Anarchismus dar.

Die Rezeption in der DDR war offenbar gespalten. Neben der offiziellen Verdammung gab es innerparteiliche Diskussionen; Bahro wurde für einen Teil der DDR-Opposition zur Identifikationsfigur, ohne jedoch die von ihm gewünschte Massenbewegung auszulösen. Auffallend war die erst nach 1990 veröffentlichte Reaktion des DDR-Ökonomen und SED-Kritikers Fritz Behrens. Er hatte vor allem Schwierigkeiten mit den leninistischen Elementen in Bahros Utopie. Die westliche (z.T. breite und über die Bundesrepublik hinausgehende) Wahrnehmung konzentrierte sich auf die Systemkritik und vernachlässigte den utopischen Anteil, obwohl dieser von den meisten Rezensenten erkannt und benannt wurde.

Bahro selbst sah das Verhältnis von Systemkritik und Utopie vermutlich anders. Unmittelbar nach seiner Ausreise bemerkte er, dass „ ein Havemann als Systemkritiker genüge“ (S.202). Robert Havemann selbst wählte wiederum eine andere Form der Verbindung von Systemkritik und Utopie als Harich und Bahro. „Morgen“ ist ein Roman mit essayistischen Zügen. Der Weg zu dieser „subjektiv-anarchokommunistischen Utopie“ (vgl. S.254) führte über einige Stationen. Havemann war weder Geistes- noch Gesellschaftswissenchaftler, sondern Chemiker. Es ist unklar, ob er wirklich schon 1931 Kommunist wurde (wie er selbst behauptete) – nach Amberger ist es zu bezweifeln. Unbestritten ist aber, dass er der Komintern bei konspirativen Aktionen gegen den Nationalsozialismus half und sich in illegalen Widerstandsgruppen engagierte. Deshalb wurde er zur Todesstrafe verurteilt, die wegen kriegswichtiger Forschungen nicht vollstreckt wurde. Nach seiner Befreiung 1945 wurde Havemann Leiter der West-Berliner Kaiser-Wilhelm-Institute, später Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität. Bis 1964 bekleidete er zahlreiche Ämter in der DDR. Er war Abgeordneter der Volkskammer, Vorsitzender des Berliner Friedensrates und des „Motorsportclubs Wissenschaften“. Dennoch legte er sich immer wieder mit der SED-Führung an, argumentierte gegen Dogmatismus und für wissenschaftlichen Meinungsstreit. 1963/64 spitzte sich dieser Konflikt zu, als er eine Vorlesungsreihe über Naturwissenschaften und Philosophie hielt, die im Westen als „Dialektik ohne Dogma“ publiziert wurde. Außerdem gab er dem „Hamburger Echo“ und dem „Spiegel“ nicht genehmigte Interviews. Daraufhin wurde er als Professor abberufen und aus der SED ausgeschlossen. Um ihn und seinen Freund Wolf Biermann bildete sich ein Kreis von systemkritischen Intellektuellen, darunter Jürgen Fuchs und Christian Kunert. 1976 wurde Biermann ausgebürgert, Havemann unter Hausarrest gestellt. 1981 verfasste er zusammen mit späteren Protagonisten der Bürgerbewegung wie Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann den friedenspolitischen „Berliner Appell“. 1982 starb er. In einem Nachruf betonte Hartmut Jäckel: „Der Glaube an die Utopie … hat Robert Havemann nie verlassen“ (S.227).

Er war zudem „ein überaus selbstbewußter Lebemann“ (ebenda). Neben Naturwissenschaften, Utopie und Kommunismus prägte wohl auch dies sein Buch „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie“, das 1980 nach einer Vorlaufzeit von mehreren Jahren erschien. Wettrüsten, weltweite soziale Ungleichheit und auch die Sicherheit von Atomkraftwerken werden hier angeprangert. Der Kapitalismus kann diese Krisen aufgrund seiner Wachstumsfixiertheit nicht abwenden. Aber auch der Realsozialismus wäre vielleicht „zu einem Polizeisystem à la Harich“ in der Lage.(vgl. S. 233) Dies wäre aber auch nur Barbarei. Die Rettung liege in der Utopie „nach dem Muster des klassischen Utopiebegriffes, bestehend aus der Kritik am Bestehenden und einem fiktiven Gegenentwurf“ (ebenda). Dieser im Präteritum gehaltene Gegenentwurf trägt die Form eines Reiseberichts der Familie Havemann nach Utopia. Man lernt sich bei neuartigen Rauschmitteln kennen. Staat und Städte sind überwunden, abgeschafft wie Geld und Arbeitszwang. Autos und Flugzeuge sind verschwunden, gängigste Siedlungsform ist das von „Familien“ bewohnte „Kinderdorf“. Neben den verschiedenen Sprachen gibt es eine Weltsprache. Liebe und Sexualität sind geprägt von einem neuen Matriarchat; Ehebruch, Inzest und Homosexualität, Treue / Untreue existieren als Begriffe nicht mehr, weil Liebe als Kategorie im Zentrum steht. Kommunikation und Technik sind von Kabellosigkeit, Recycling und alternativen Energien geprägt. Dabei ist dieser „Reisebericht“ weder vollständig noch umfassend, die Wirklichkeit von „Morgen“ kann noch viel phantastischer sein. In der DDR wurde Havemanns Utopie sowohl von der SED-Spitze als auch der Parteibasis übergangen. In oppositionellen Lesezirkeln fand sie bei weitem nicht den Anklang wie Bahros „Alternative“. Im Westen hingegen schaffte es „Morgen“ auf die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Wissenschaftlern wie Ossip K. Flechtheim und Richard Saage eher positiv rezipiert.

In knappen Schlussbetrachtungen fasst Amberger die von ihm beobachteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zusammen. Bei allen drei Autoren lassen sich zentrale Elemente der Utopie finden: die Kritik am Bestehenden und das Aufzeigen einer theoretischen Alternative. Gemeinsam sind die positiven Verweise auf die politische Utopie und den Marxismus unter (z.T. distanziertem) Bezug auf Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“. Gleiches gilt für die Wichtigkeit der Ökologie, während Naturmystik, Spiritualität und Esoterik abgelehnt werden. Die Wachstumsfrage wird von allen drei Denkern stärker als im US-Utopiediskurs in den Mittelpunkt gestellt. Unterschiedlich beantworten sie die Frage nach den Transformationskonzepten und deren Subjekten. Bahros intellektuelle Kulturrevolution ist anders als Havemanns Festhalten am Proletariat. Harich steht mit seinem Ruf nach staatlichen Institutionen als einziger Alternative zur Apokalypse allein. Bedenkt man, dass aktuelle Probleme wie Umweltzerstörung, Hunger und der mit dem Nord-Süd-Konflikt verbundene Terrorismus durchaus global-utopische Dimensionen haben, wird Alexander Ambergers Resümee verständlich: „Ihre Utopien sind anachronistisch und hochaktuell zugleich. Anachronistisch sind sie, weil der historische Entstehungskontext wenig mit der Gegenwart gemein hat. Aktuell sind sie hingegen bezüglich der Wachstumskritik und der Entwicklung von Postwachstumsmodellen“ ( S. 301).

Das Buch ist flüssig geschrieben und solide recherchiert, wobei zahlreiche Quellen aus den Unterlagen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit ausgewertet wurden. Es bringt vielfach neugierig machende Einzelheiten und fordert weitere Diskussionen heraus, so etwa bei der Frage, warum Dutschke Bahro als Plagiator verdächtigte (S.147) oder wie „bereits in der DRR eine öffentliche Diskussion über Wittfogel und die asiatische Produktionsweise geführt wurde“ (S.148). Der Text lag als politikwissenschaftliche Dissertation der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vor. Mit-Betreuer Richard Saage hat ein herausragendes und konzises Vorwort beigesteuert. Förderer war die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Anhang bietet ein Personenregister (leider kein Sachregister) und ein detalliertes Quellenverzeichnis. Insgesamt ist eine weite Verbreitung zu wünschen.