Dissident und Suchender

Am 18. November wäre Rudolf Bahro 80 Jahre alt geworden.

Zuerst veröffentlicht in: LINKS!, Ausgabe 11/2015

Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hatte ein Faible für ökologische Fragen und alternative Gesellschaftsmodelle. In seiner Tagespolitik war davon zwar wenig zu spüren, er theoretisierte jedoch gern darüber und unterstützte sogar praxisphilosophische Versuchslabore. So half Biedenkopf 1993 dem Philosophen Rudolf Bahro bei der Gründung des „Lebens-Gutes Pommritz“ in Sachsen, nachdem dieser ihn 1991 zu einer Veranstaltung nach Berlin eingeladen hatte. Das Thema von Biedenkopfs Vortrag lautete damals: „Eine Wirtschaftsordnung für GAIA – Plan und Markt vor der Belastungsgrenze des Planeten“.
Bahro hatte zu dieser Zeit bereits mit seiner DDR-Vergangenheit abgeschlossen und widmete sich ausschließlich der Erkundung von Alternativen zur Industriegesellschaft. Der ehemalige Kommunist sah in der Linken kein ausreichendes Potential für eine völlige Abkehr von der weltzerstörerischen „Megamaschine“. Deshalb suchte er fast überall nach Verbündeten und geriet dabei auch mit dubiosen Esoterikern in Kontakt. In den 1990er Jahren wurden ihm vor diesem Hintergrund u.a. von seiner ehemaligen Mitstreiterin bei den Grünen, Jutta Ditfurth, völkische Tendenzen vorgeworfen. Tatsächlich klingen einige Äußerungen Bahros aus dieser Zeit befremdlich. Sein Bestreben war jedoch kein (öko-)faschistisches, sondern die verzweifelte Suche nach einer Gesellschaft, in welcher der Mensch nicht länger als Belastung der Natur fungiert. Inspiration suchte er hierfür nicht nur bei Marx und Hegel, sondern in seinen letzten Lebensjahren insbesondere auch im religiösen und esoterischen Bereich. Die Schnittmengen, die es in diesem Spektrum für (neu-)rechte Tendenzen gibt, übersah Bahro oder nahm sie in Kauf. Er ordnete der Rettung der Umwelt alles unter, auch die Existenz politischer Lager. Nicht Links, nicht Rechts, sondern vorn – so lautete schon in den 80er Jahren seine Devise, als er sich bei den entstehenden Grünen in führender Rolle einbrachte.
Die bewusste Abkehr von der Tagespolitik und vom Parteienwesen war auch Resultat einer langen Suche mit vielen Rückschlägen und Desillusionierungen. Geboren wurde Bahro vor 80 Jahren im niederschlesischen Bad Finsberg. Als Kriegskind durchlitt er die Flucht, die seine beiden Geschwister und die Mutter nicht überlebten. Angekommen in der Sowjetischen Besatzungszone, wuchs Rudolf Bahro bei seinem Vater auf und ging als junger Mann nicht nur in die SED, sondern auch an die Humboldt-Universität nach Berlin, um Philosophie zu studieren. Damals war er völlig von der DDR und auch von Stalin überzeugt. Erst nach Abschluss seines Studiums wuchsen langsam Zweifel an der Parteiführung. Bahro kam zu der Überzeugung, dass es der SED-Spitze vorrangig um den Erhalt ihrer Macht und kaum um die Verwirklichung des Kommunismus gehen würde. Seine Strafversetzung 1965 von einer Studierendenzeitung hinein in den Gummikombinat Berlin Weißensee sowie die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bestätigten endgültig diese Meinung, und Bahro beschloss in seiner Wut, ein Buch zu schreiben, das als Abrechnung mit dem Realsozialismus und zugleich auch als Entwurf eines anderen Kommunismus gemeint war.
Dieses Buch, 1977 als „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ erschienen, schrieb Bahro kon- spirativ und parallel zu seiner offiziell angemeldeten Dissertation. Nachdem die Stasi auch noch die Promotion verhindert hatte, ging Bahro endgültig in die Offensive, verbrachte das Manuskript seiner „Alternative“ heimlich in den Westen und plante gemeinsam mit (westdeutschen) Partnern ein umfassendes mediales Begleitprogramm zum Erscheinen des Buches. So schlug es, flankiert von vorproduzierten Interviews für westdeutsche Leitmedien, über Nacht ein. Bahro wurde umgehend verhaftet und wenige Monate später verurteilt. Die SED hatte allerdings so kurz nach der Biermann-Affäre kein Interesse an einem inhaftieren bekannten Kritiker und entließ ihn im Rahmen einer Amnestie zum 30. Republikgeburtstag 1979 in die Bundesrepublik.
Bahros „Alternative“ ging insgesamt ca. 300.000mal über den Ladentisch und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Auch in der DDR nahm man das Buch mit großem Interesse auf – wenn auch nur heimlich und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Das betrifft sowohl konspirative oppositionelle Lesekreise als auch den SED-Apparat selbst. Hier kursierte es auch, jedoch durfte nicht darüber diskutiert werden, und es bedurfte eines Zugangs zum „Giftschrank“, wenn GenossInnen der SED einen Blick hinein werfen wollten. Die SED-Führung erkannte anscheinend die Brisanz des Inhalts, richtete sich „Die Alternative“ doch vorrangig an enttäusche KommunistInnen. Bahro hatte einen Widerspruch erkannt: Das vergleichsweise erfolgreiche Bildungssystem der DDR brachte einerseits hochqualifizierte und selbständig denkende Kader hervor. Nach der Ausbildung gab es für sie jedoch zu geringe berufliche Chancen und kreative Entwicklungspotentiale. Bahro meinte, dass dieser Überschuss an Bildung und Bewusstsein mittelfristig dazu führen werde, dass sich innerhalb der Partei ein „Bund der Kommunisten“ bilden und den alten Parteiapparat ersetzen würde.
Dieser Bund sollte die SED-Herrschaft ablösen und die Gesellschaft hin zum Kommunismus führen. Die bisherigen Machthaber hielt er aufgrund der Apparatstruktur, der Bürokratie und der Hierarchie nicht für befähigt, eine andere Politik zu betreiben. Er warf der SED vor, bloß aussichtslos dem westlichen Konsummodell nachzurennen, statt einzusehen, dass es erstens unerreichbar und zweitens zerstörerisch ist.
Bahro plädierte hingegen für Emanzipation: „Der ganze Typus von erweiterter Reproduktion, den die europäische Zivilisation in ihrer kapitalistischen Ära hervorgebracht hat, diese lawinenartig anschwellende Expansion in allen materiell-technischen Dimensionen, beginnt sich als unhaltbar darzustellen. Der Erfolg, den wir mit unseren Mitteln der Naturbeherrschung hatten, droht uns und alle anderen, die er unbarmherzig in seinen Sog reißt, zu vernichten“. Bahro wandte sich hier auch gegen den Glauben, dass durch technischen Fortschritt die Probleme der Industriegesellschaft lösbar seien. Darin sah er vielmehr „eine der lebensfeindlichsten Illusionen der Gegenwart“. Verfechtern eines „grünen Kapitalismus“ sei die „Alternative“ hier zur (erneuten) Lektüre ans Herz gelegt.
Kommunismus im Sinne Bahros bedeutete hingegen ein bedächtiges, geregeltes, nachhaltiges und harmonisches Wachstum und Leben. Dazu sei ein Ausgleich, ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur nötig, was wiederum erst den „Sprung ins Reich der Freiheit“ möglich machen würde. Nicht Askese, aber eine Abkehr vom Konsumverhalten der Industriegesellschaft charakterisiert Bahros utopischen Entwurf in der „Alternative“ von 1977. Spätere Texte brechen noch viel deutlicher mit der westlichen Produktions- und Lebensweise. Bahro selbst legte dabei nie einen geschlossenen utopischen Entwurf vor, sondern blieb Suchender. Sich selbst verortete er dabei erst innerhalb und später außerhalb der Gesellschaft. Der Zeitzeuge Marko Ferst berichtet hierzu: „Rudolf Bahro meinte einmal mündlich, er sei kein Dissident, nicht er sei es, der abwiche von der Gesellschaft. Mit der Kritik an den versteinerten politischen Verhältnissen in der DDR, an der Diktatur des Politbüros als verhängnisvoll übersteigertem bürokratischen Prinzip, konnte er eine Mehrheit der DDR-Bürger hinter sich wissen. Da war er kein Abweichler, kein Andersdenkender. […] Doch die Dissidenz beginnt dort, schon in der ‚Alternative‘, wo es darum geht, ob unser gesellschaftlicher Stoffwechsel verträglich ist für den Erhalt der Natur, ob der Industrialismus nicht bereits in vielen Ländern das zuträgliche Maß überschritten hat“. In späteren Texten begab er sich hier immer mehr in eine Gegenposition zur Mehrheit – und teils auch ins Abseits. Er blieb bis zu seinem Tode im Dezember 1995 ein Dissident und zugleich ein Suchender in Sachen Alternative(n).