Utopien gibt es schon seit Jahrhunderten – Zeit für ein (erneutes) Comeback!
zuerst erschienen in: Analyse&kritik, Nr. 699 (12.12.2023), S. 17.
Ernst Bloch war ein optimistischer Mensch. Sein Buch “Geist der Utopie“ entstand während des Ersten Weltkrieges, und das Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ umfasst drei Bände voller Optimismus, geschrieben in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bloch steht damit in der langen Linie politischer Utopien, die im Dunkeln das Licht suchen. Diese Texte setzen sich zusammen aus einer kritischen Analyse der bestehenden Gesellschaft nebst dem Entwurf einer besseren Alternative.
Utopische Texte entstanden bereits in der Antike, der Begriff „Wolkenkuckucksheim“ geht auf Aristophanes zurück. Im Jahr 1517 knüpfte Thomas Morus mit der „Utopia“ hier an. Er analysierte seine frühkapitalistisch-klerikale Gegenwart und setzte ihr eine zentralistisch-kommunistische Inselwelt entgegen. Ihm folgten zahllose Utopien, die eines gemeinsam hatten: In den erdachten Gesellschaften funktioniert (fast) alles widerspruchsfrei und kollektivistisch.
Im beginnenden Industriezeitalter kritisierten Sozialutopien die Unmenschlichkeit entfremdeter Maschinenarbeit und entwarfen sozialistische Gegenwelten. Marx und Engels lehnten solche Zukunftsbilder ab. Sie würden das Proletariat mit Träumereien vom revolutionären Kampf abhalten. Doch die Utopieproduktion ging weiter. In den Jahren nach der Russischen Revolution 1917 schien eine Realisierung utopischer Wünsche möglich. Durch Bürgerkrieg, Einparteienherrschaft und Bürokratisierung wurden viele Träume aber bald zur realpolitischen Farce.
Jewgeni Samjatin schrieb deshalb 1920 die erste Dystopie: „Wir“ ist ein Warnbild vor totalitärer Herrschaft. Als Stalinismus und Faschismus wenige Jahre später real existierten, arbeiteten „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley und „1984“ von George Orwell ihre inhumanen Mechanismen heraus. In „1984“ heißt es: „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder.“ Das Ende der positiven Utopie schien erreicht.
Doch zwanzig Jahre später folgte im Zuge von 1968 eine Renaissance. Nun entstanden feministische, ökologische, anarchistische Entwürfe, welche die Utopie selbst kritisch befragten: Wie kann verhindert werden, dass Egoismus und Macht zu neuen autoritären Strukturen und zu Ausbeutung führen? Wie viel Individualismus ist möglich, wie viel Kollektivismus nötig? Und was macht man mit jenen, die nicht mitmachen wollen? „The Dispossessed“ von Ursula K. LeGuin ist das Meisterwerk jener Jahre.
Seit 1990 verkünden Konservative gern das Ende der Utopie. Der Siegeszug des Kapitalismus scheint ihnen Recht zu geben. Zukunftsängste existieren dank Kriegen, Klimawandel und KI reichlich. Und so blüht seither vor allem die Dystopie, die diesen Entwicklungen einen „Black Mirror“ vorhält. Positive Utopien hingegen gibt es kaum. Zwar finden sich in Nischen vielerlei linke Projekte, Träume von Computerkommunismus oder Postwachstumsgesellschaften. Bisher ist darunter aber keine neue linke Großerzählung. Die Geschichte zeigt allerdings, dass das nicht so bleiben muss und dass Utopien für die Weiterentwicklung von Gesellschaften unabdingbar sind.